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Die heutige Weltordnung hat ihre Grundlage im Westfälischen Frieden, der das Ende des Dreißigjährigen Krieges (1618-1648) besiegelte. „Er beruhte auf einem System unabhängiger Staaten, die davon Abstand nahmen, sich in die inneren Angelegenheiten der anderen einzumischen“ (S. 11) Seither, so argumentiert Henry A. Kissinger in seinem Buch „Weltordnung“ (erschienen 2014), sind staatliche Souveränität, gegenseitige Nichteinmischung und friedliche Koexistenz die drei Säulen der europäischen Ordnung, die sich im 20. Jahrhundert weltweit ausgebreitet hat. „Die Genialität des Systems beruhte darauf, dass seine Bestimmungen auf Verfahrensweisen und nicht auf inhaltliche Fragen gerichtet waren.“ (S. 39)

 

Siehe auch: Noam Chomsky, Wer beherrscht die Welt?

 

Henry Kissinger beschreibt und analysiert teilweise als Politologe, teilweise als Ex-Politiker, immer aber als Evangelist des amerikanischen Idealismus die Entwicklungen der Weltordnung im 20. Jahrhundert. Das bedeutet nicht, dass er mit missionarischen Eifer versucht den Leser zu bekehren. Das bedeutet lediglich, dass er Amerika, trotz mancher Andeutungen innerer Widersprüche, niemals in Frage stellt: Amerika „sieht die wahre Herausforderung seines außenpolitischen Engagements nicht in der Außenpolitik im traditionellen Sinn [Anmerkung: Durchsetzung der eigenen Interessen], sondern als ein Projekt, durch das es jene Werte verbreiten kann, von denen es annimmt, dass alle anderen Völker sie gerne übernehmen würden. Diese Doktrin enthält eine Vision von außergewöhnlicher Originalität und großem Reiz.“ (S. 265)

 

Siehe auch: Corona-Herrschaft 2021

 

Doch im Vietnamkrieg hat diese Doktrin offenbar ihren Reiz verloren. Ab 1968 wurde der Widerstand der Amerikaner gegen die eigene Regierung langsam größer als der Widerstand der Nordvietnamesen, die auf Zeit spielten und damit kalkulierten, „dass sich die Bereitschaft der Amerikaner bald erschöpfen würde, weiter so gewaltige Opfer zu bringen.“ (S. 342) 1973 hat Kissinger höchst persönlich als Sicherheitsberater von Präsident Richard Nixon mit Nord-Vietnam das Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet. Dafür hat er sogar – gemeinsam mit seinem vietnamesischen Kontrahenten - den Friedensnobelpreis erhalten, was er in Bescheidenheit in seinem Buch unerwähnt lässt. Dass er auch 6000 Giftgasangriffe mit „Agent Orange“ und andere Kriegsverbrechen der Amerikaner unerwähnt lässt, ist keine Bescheidenheit, auch keine Vergesslichkeit, sondern - angesichts der Position und intellektuellen Kompetenz von Kissinger – äußerst bedenklich.

 

Damit stellt Kissinger nicht nur seine politischen Analysen in Frage, sondern er diskreditiert gleichzeitig alle politischen Akteure, die moralische Werte zur Maxime ihres Handels machen.

 

UNO Weltordnung 500

 

Kissinger spannt einen Bogen der US-Geschichte vom Beginn bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. „Wir haben keine selbstischen Ziele... Wir verlangen nach keiner Eroberung, keiner Vorherrschaft. … Wir sind lediglich einer der Vorkämpfer für die Rechte der Menschheit.“ So begründete Präsident Wilson 1917 die Kriegserklärung gegen Deutschland. Kissinger über Wilson: „Er wird als Prophet einer Vision verehrt, der nachzustreben Amerika sich verpflichtet fühlt“ (S. 303) Franklin Roosevelt ging 1945 sogar noch über Wilson hinaus, als er seine Überzeugung zum Ausdruck brachte, „dass persönliches Vertrauen die Grundlage der neuen internationalen Ordnung werden müsse: Die Art Weltordnung, die wir friedliebenden Völker schaffen müssen, muss im Wesentlichen von freundschaftlichen Beziehungen .. abhängen...“ (S. 305)

 

Nach Ende des 2. Weltkriegs konnte Amerika den Sieg seines „moralischen Universalismus“ (S. 314) feiern. Und mit Ausbruch des Kalten Krieges war es nur noch ein kleiner Schritt zum Gefühl „seiner moralischen Überlegenheit“ (S. 316) Seit dem „Sieg im Kalten Krieg … grübelt Amerika darüber nach, mit welcher Moral sich seine Anstrengungen rechtfertigen lassen, … Entweder erwiesen sich die amerikanischen Ziele als unerreichbar, oder Amerika verfolgte keine Strategie, die mit der Erreichung der Ziele kompatibel war.“ (S. 317) Die Antwort wäre einfach: sicher nicht mit der Überzeugung moralischer Überlegenheit, die aber bis heute insbesondere gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion wenn schon nicht offen gezeigt, so zumindest unausgesprochen vorausgesetzt wird. Diese Einstellung impliziert, dass folgende Gleichungen bis heute gültig sind: der Idealismus Amerikas = Kampf für Freiheit und Demokratie. Die Ideologie Russlands = Unterdrückung von Freiheit und Demokratie. Diese Einstellung impliziert: Idealismus ist gut, Ideologie ist böse.

 

Die Rolle Russlands in der Weltordnung des 21. Jahrhunderts hat Kissinger weitgehend ausgeklammert. Die Krisen im Arabischen Raum sowie der Dschihad und Islamismus sind in Bezug auf 9/11 für Amerika offenbar wichtiger. Indirekt konzediert Kissinger, dass Amerika in diesen Ländern gescheitert ist: „Im Irak rief der Sturz von Saddam Husseins brutaler, sunnitisch dominierter Diktatur weniger den Wunsch nach Demokratie als vielmehr nach Rache hervor.“ (S. 167) Und über Syrien: „Amerikas Zwickmühle besteht darin, dass es Assad aus moralischen Gründen – zu Recht – verurteilt, dass aber dessen Gegnerschaft zum größten Teil aus al-Qaida- und sogar noch extremeren Gruppen besteht.“ (S. 169) Kissingers Resümee über den Islamismus und den Nahen Osten, eine Welt in Unordnung: „Fasst man all diese Entwicklungen zusammen, dann muss man feststellen, dass ein signifikanter Teil der Landfläche und Bevölkerung dieser Welt im Begriff steht, aus dem internationalen Staatensystem praktisch vollständig herauszufallen.“ (S. 168)

 

Zwei Kapitel widmet Kissinger China, Japan und Indien. Afrika und Südamerika liegen allerdings jenseits seines weiten Horizonts. Das Buch „Weltordnung“ („World Order“) ist 2014 erschienen, als Barack Obama bereits in seiner zweiten Amtszeit war, doch der Name des 44. US-Präsidenten kommt in der Untersuchung Kissingers nicht vor. Da kann Wladimir Putin sich trösten, denn er wird in einem großen historischen Bogen immerhin einmal namentlich erwähnt: „Russlands Politik folgte im Lauf der Jahrhunderte einem ganz eigenen Rhythmus … Obgleich sich die Verhältnisse von Peter dem Großen bis zu Wladimir Putin veränderten, blieb dieser Rhythmus ungewöhnlich beständig.“ (S. 64) Nun war es sicher nicht die Hauptintention des 90-jährigen Henry Kissinger, Obama zu brüskieren oder Putin zu trösten, sondern einen Beitrag zur Weltordnung des 21. Jahrhunderts zu liefern. Doch daran ist Kissinger gescheitert, denn die Prämissen, dass Amerika immer nur für Freiheit und Demokratie kämpft (was bis zum Ende des kalten Krieges grundsätzlich, wenn auch nicht in jedem Einzelfall anerkannt werden muss), mehr noch, dass Amerika bis heute mit Freiheit und Demokratie zu identifizieren sei und demnach für alle Zeiten der weltweite Garant für diese Werte sein müsse – diese Prämissen stimmen einfach nicht mehr.

 

Seit Beginn dieses Jahrhunderts haben bereits zwei internationale Finanzkrisen („New Economy 2002, „Sub Prime“ 2008), die in den USA ihren Ausgang genommen haben, die Welt erschüttert. Dazu kommt die tiefe Spaltung Amerikas zwischen Reich und Arm (schlag nach bei Joseph Stiglitz), die einen selbsternannten Rächer der Enterbten als Präsidenten ermöglicht hat, die Entmachtung der Demokratie durch die Plutokratie, sowie die untragbare Verschuldung des Landes. All diese Probleme die sich seit Beginn dieses Jahrhunderts aufstauen, befinden sich offenbar außerhalb der Wahrnehmung des Politologen Kissinger.

 

Kissinger erklärt zwar in den meisten Fällen die Entwicklung des 20. Jahrhunderts plausibel. Doch der Evangelist des amerikanischen "historisch gewachsenen  Idealismus" (S. 316) ist mental im 20. Jahrhundert stecken geblieben. Bis zur Analyse, welche Bedrohungen die Weltordnung zu Beginn des 21. Jahrhundert stören oder gar zerstören könnten, dringt er nicht vor. Auch die Hinweise auf die Gefahren aus dem Cyberraum und seine unbeholfene Auseinandersetzung mit Social Media bestätigen nur sein Selbstbekenntnis: „Ich habe zum Thema Internet noch nie etwas verfasst und verfüge zu dessen technischer Struktur kaum über Kenntnisse.“ (S. 428)

 

So mutiert der Politstratege und Evangelist am Ende doch zum Prediger: „Amerika ist die wichtigste Verkörperung des menschlichen Freiheitsdrangs in der modernen Welt und die unverzichtbare geopolitische Kraft, die humane Werte verteidigt. Amerika darf seinen Kompass nicht verlieren. Um die Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen, ist auf philosophischer wie geopolitischer Ebene eine angemessene Führungsrolle Amerikas unverzichtbar.“ (S. 424) Gender-gerechte Message zum Abschluss: „Staatsfrauen und Staatsmänner müssen Entscheidungen, mit denen sie diesen Herausforderungen gerecht werden wollen, zu einem Zeitpunkt treffen, zu dem ein möglicher Ausgang noch nicht absehbar ist.“ (S. 425)

 

Henry Kissinger

Weltordnung, 2016, ISBN-13: 978-3570552988

World Order, 2014; ISBN-13: 978-0143127710 - "Henry Kissinger offers in World Order a deep meditation on the roots of international harmony and global disorder."

 

Siehe auch Beiträge auf fischundfleisch.com und auf amazon

Siehe auch: Ist der Westen noch zu retten?

Siehe auch: Atlantische Bruchlinien (Wiener Zeitung am 19.3.2018) 

 

Ergänzung 6.2.2019: Jürgen Trittin in einem Gastkommentar der NZZ: "Amerika und Europa teilten lange gemeinsame Interessen, Institutionen und Ideale. Letztere sind politisch in Vietnam und Chile unter die Räder gekommen. Die Invasion des Iraks 2003 machte den Bruch der ideellen Basis gemeinsamer Politik zwischen den USA und Europa unübersehbar. ...  Heute blockiert die Spaltung der US-Gesellschaft das gesamte politische System. Die Beziehungen zwischen Europa und den USA sind erschüttert. Trumps Anspruch auf globale ökonomische Dominanz führt in einen Handels- und Steuerkrieg mit Europa. Europa ist angeblich schlimmer als China – so Präsident Trump. Gemeinsame Institutionen sollen sich dem Diktat der USA fügen oder «eliminiert» werden – so Aussenminister Pompeo. Das ist die grösste Krise in den transatlantischen Beziehungen.

 

Ergänzung 12.7.2021: "Wie Henry Kissinger vor 50 Jahren die Tür zu China aufstiess" – über Kissingers Geheimreise nach China berichtet NZZ.

 

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