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Jeder Mensch kennt die Situation, dass er – oft unbegründet oder unbegründbar - an Schuldgefühlen leidet. Das häufig anzutreffende individuelle Schuldbewusstsein ist kein Beweis, dass Schuld in Folge der sogenannten Erbsünde immer schon auf uns lastet, sondern nur dafür, dass 2000 Jahre christlich-theologischer Indoktrination deutliche Spuren in den Köpfen der Menschen Europas hinterlassen haben. Auf die Perpetuierung dieses Schuldbewusstseins haben sich die Kirchen spezialisiert, die keine Lösung der Probleme im Diesseits anbieten, sondern nur eine Erlösung im Jenseits. Dass Kirchen mit der Caritas und anderen sozialen Einrichtungen Erste Hilfe leisten, ist zwar gut, aber auch nur eine moderne Form, das Schuldbewusstsein zu beruhigen. Caritas ist im Prinzip Mitleid mit den Schwächsten eingebettet in eine öffentliche Institution, den Anforderungen unserer Zeit entsprechend als Unternehmen konzipiert.

 

Auf eine andere Form von Heilsversprechen, nämlich die Heilung des Schuldbewusstseins, hat sich die Psychoanalyse spezialisiert, wobei auch die Psychoanalyse – ich erlaube mir die Simplifizierung – den anderen (bevorzugter Weise den Eltern) die Schuld zuweist. Dabei dient die Ebene des Unterbewussten vorzüglich als Lagerstätte der Schuldgefühle. Psychotherapeuten bemühen sich, diese Gefühle auf die Ebene des Bewusstseins zu heben, damit der Patient sie dem Verursacher zurückgeben kann. Die Schuldzuweisung ist ein Muster, das seit Adam und Eva besteht. „Brauchen“ wir demnach immer einen Schuldigen? Anders gefragt: gehört es zum Wesen des Menschen und zur Aufrechterhaltung der Gemeinschaft, dass wir Schuldige haben? Die Antwort ist eindeutig: JA!

 

Der Begriff der Schuld ist weitgehend negativ (im Sinne von moralisch schlecht) bewertet. Nicht nur in Folge von Religion und Psychoanalyse, auch im Rechtswesen: der Schuldige wird bestraft, nur der Unschuldige wird frei gesprochen. In diesem Sinne ist gut, wer unschuldig ist. Nur eine positive Besetzung kennt das Wort: die Ent-Schuldigung. Womit das Ein-Geständnis einer Schuld (meist ein lässliches Vergehen oder ein einfaches Missgeschick) einher geht. Wie auch immer, der Common Sense kennt Schuld als negativen Begriff.

 

Auch wenn sich der Universalgelehrte Norbert Bischof „von der philosophischen Ethik allenfalls kritische Einwände und vor allem lohnende Fragestellungen“ erwartet, „aber nicht die Kompetenz, darauf auch belastbare Antworten zu geben“, [Norbert Bischof, Moral. Ihre Natur, ihre Dynamik und ihr Schatten, Wien Köln Weimar, 2012, S. 89] kennt die Philosophie eine Antwort zur Lösung, ja sogar zur Auflösung des Schuldproblems: das philosophische Synonym für Schuld, das diesen negativen Begriff vollständig ersetzen kann – nein, schon längst ersetzt hat, ist die Verantwortung!

 

Persönlicher Tipp: diese Aussage kannst du jederzeit nachprüfen: ersetze in jedem Satz, den du findest oder erfindest, und in dem der Begriff „Schuld“ vorkommt, diesen durch das Wort „Verantwortung“ und prüfe, ob der Sinn 1:1 erhalten bleibt. Wenn du einen Satz findest, auf den das nicht zutrifft, stehe ich in deiner Schuld (=übernehme ich die Verantwortung) und zahl dir den Preis für dieses Buch zurück.

 

In der positiven Bewertung des Begriffes Verantwortung berufe ich mich zunächst auf den Common Sense. Natürlich gibt es Menschen, die sich vor ihrer Verantwortung drücken wollen. Beispielsweise geschiedene Väter, die ihre Alimente nicht zahlen können oder wollen. Aber auch sie sind sich, das bezweifle ich nicht, im positiven Sinne ihrer Verantwortung bewusst – und wahrscheinlich drückt sie gleichzeitig das Schuldbewusstsein.

 

Die Umwertung der Schuld zur Verantwortung ist kein Etikettenschwindel, Schuld und Verantwortung sind keine Synonyme, die rein formal austauschbar sind. Um es nochmals zu betonen: es geht dabei um die gleichen Phänomene, aber um völlig unterschiedliche Werte und Weltanschauungen, die damit verknüpft sind. Die Bedeutung der Umwertung dieser Werte wird deutlich, wenn wir diese Begriffe „auseinanderdividieren“ und nach den moralischen Kriterien gut versus schlecht bewerten:

gut

schuldlos

verantwortungsvoll 

unschuldig

verantwortlich

schlecht

schuldhaft

verantwortungslos

schuldig

unverantwortlich

   

 

Wer ist schuld? Diese Frage quält nicht nur Menschen, die einen Psychiater aufsuchen. Diese Frage steht auch immer dann im Mittelpunkt der Kontroversen, wenn die Verursacher eines politischen Konfliktes gesucht werden. Sowohl für die psychologische als auch die politologische Ursachenforschung gilt: Niemand ist schuld, aber jeder trägt Verantwortung. Der Schuldbegriff ist antiquiert und gehört somit ins Antiquariat der Moralbegriffe. Im Unterschied zu Nietzsche ist diese Umwertung der Schuld zur Verantwortung kein Etikettenschwindel. Hier geht es darum, ein Phänomen, das zu den konstituierenden Werten unserer Zivilisation zählt – die Verantwortung - von seinem negativen Image und seinen negativen Auswirkungen zu befreien.

 

Noch ein wichtiger Unterschied: Schuld ist ihrem Wesen nach passiv (schuldig sein), Verantwortung ist aktiv (Verantwortung muss man übernehmen).

 

Aus der Logik der Umwertung der Schuld in Verantwortung folgt auch die Notwendigkeit zur Umwertung von Tod und Teufel – die mal einzeln, mal in Personalunion das religiöse Denken ebenso stark beeinflussen wie Gott der Gerechte und Gott die Liebe. Damit gehe ich nicht so weit wie Nietzsche, der die Lüge zur besseren Wahrheit macht. Wenn wir Luzifer ganz einfach wertfrei und wertneutral als Licht der Erkenntnis interpretieren, dann entspricht das Spannungsfeld Luzifer versus Gott exakt dem Kampf zwischen Wissenschaft und Kirche, den die Zivilisation seit Ausbruch des Christentums erlebt hat und immer noch erlebt.

 

Auszug aus dem Buch MORAL 4.0 - ISBN 9783744890977

INHALTSVERZEICHNIS

LESERMEINUNGEN 

Siehe auch: Hans Jonas. Das Prinzip Verantwortung

 

 

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