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Václav Havel, viele Jahrzehnte Dissident unter dem kommunistischen Regime der Tschechoslowakei, war ein Moralist. Man muss heute, 2020, dazu sagen, dies ist keine Beleidigung, weil angeblich jede Moral moralinsauer ist, sondern ein Kompliment, das sich aus dem Leben und den Schriften des Dichters ableiten lässt. In der Opposition zum Kommunismus hat sich Havels Moralismus bewährt, mehr noch: bewahrheitet. In der Position, zumal in der des Präsidenten seines Landes, ist der Moralist öfters gescheitert. Ist der Versuch, die „reine Lehre“ in die Praxis umzusetzen nur im Widerstand möglich? Ist der „Versuch, in der Wahrheit zu leben“ wie sein Buch „Moc bezmocnych“ (wörtlich: „Die Macht der Machtlosen“) in der Übersetzung heißt, an der Macht zum Scheitern verurteilt? Führt der Schritt von der Opposition in die führende Position des Staates zwangsweise zum „Verrat“ moralischer Prinzipien? Ist es wirklich so banal, dass jede Macht korrumpiert?

 

Vaclav Havel Buecher 500

 

Der Journalist Daniel Kaiser hat aufgrund hunderter eigener Interviews und intensivem Studiums der Primärquellen eine detaillierte Biografie Havels in seinen Jahren der Präsidentschaft von 1990 bis 2003 geschrieben, die 2017 in deutscher Fassung erschienen ist. Obwohl der Autor als Zeitzeuge Havels Präsidentschaft persönlich erlebt hat, bleibt er als Beobachter und Chronist konsequent neutral. Dies zeichnet das Buch aus.

 

Kaiser schreibt darüber wie Havel sein Amt ausfüllt, Homestories oder private Skandälchen bleiben ausgeklammert. Der Tod von Václavs Frau Olga Havlová wird lediglich in einem Absatz abgehandelt, ebenso kurz wird erwähnt dass der Präsident ein Jahr später seine langjährige Freundin Dagmar Veškrnová geheiratet hat. Es folgt der Hinweis, dass sie danach mit kapriziösen Auftritten die Mitarbeiter Havels öfters provoziert hat, aber moralinsaure Kommentare über das Privatleben des Präsidenten bleiben aus.

 

Doch über die moralischen Positionen, die der Präsident in Zeiten als Dissident formuliert hat, darüber muss natürlich auch ein Chronist berichten. Und es ist legitim zu beobachten ob und in wie weit sich Positionen des Moralisten in der Politik des Präsidenten wiederfinden. Dass Havel nahtlos aus dem Gefängnis in die Burg, den Sitz des Präsidenten, wechselte, löste eine „regelrechte Havlomanie aus […] der oft geradezu komischen Vergötterung zu widerstehen war nicht leicht und gelang manchmal auch nicht.“ (S 14/16)

 

Laut Kaiser waren Friedfertigkeit und Harmoniebedürfnis die Maximen von Havels Entscheidungen und Handlungen, so bot der neu gewählte Präsident „der gesellschaftlichen Mehrheit, die passiv war und sich nicht direkt am System beteiligt hatte, Vergebung und eine Stunde Null an.“ (S. 20) Sein erster Akt war eine Amnestie, durch die 24.000 von 30.000 Häftlingen aus der kommunistischen Ära frei kamen – darunter natürlich nicht nur politische Häftlinge sondern auch echte Kriminelle. Das nahm Havel aufgrund seiner moralischen Position in Kauf: „Der Dissident Havel brachte aus seinen hinter Gittern verbrachten Jahren die Tendenz mit, in den Verurteilten automatisch auch Opfer zu sehen.“ (S. 23)

 

Die erste Auslandsreise führte den Präsidenten gemeinsam mit seinem Dissidentenfreund Jiří Dienstbier (nun Außenminister) in die USA. In seiner Rede vor dem Kongress sprach er nebenbei, aber ohne Koketterie von der „Bürde der politischen Verantwortung“. Doch sein Hauptthema war die internationale Außenpolitik, er verkündete nach dem Ende des Ostblocks eine „Ära der Multipolarität“ und zeigte sich sogar gegen seinen Hauptfeind versöhnlich, indem er von den USA Unterstützung für die Sowjetunion „auf ihrem unglaublich komplizierten Weg zur Demokratie“ forderte. (S. 28) In die Sowjetunion führte sogleich die nächste Auslandsreise, wo Havel Prag als Ort für ein Treffen der Supermächte anbot – eine Initiative, die jedoch im Sande verlief.

 

Die Außenpolitik, wo es um das Große Ganze und nicht wie in der Innenpolitik um kleinliche Intrigen geht, war immer Havels Stärke, was dem Premierminister Václav Klaus, der sich voll auf die Reform der Wirtschaft konzentrieren wollte, sehr willkommen war. So haben beide Alphatiere ihre Reviere abgesteckt. Dagegen war Jiri Dienstbier nicht nur persönlich, sondern auch als Außenminister der Freund und Unterstützer von Havel und seiner Politik. Erst später kam es zu Reibereien mit den Außenministern Josef Zieleniec und Jan Kavan.

 

Für Josef Zieleniec war Politik „ein Streit legitimer Interessen verschiedener gesellschaftlicher Gruppe. Havel wiederum verstand die Politik auch weiterhin als Mittel, eine moralische Revolution zu beginnen. Was die Außenpolitik betraf, so stellte sich der Präsident damals [1990] noch vor, dass, habe man die Militärblöcke aufgelöst, alle nett zueinander sein würden.“ (S. 78) Von diesem Glauben verabschiedete sich Havel offenbar bald nach Gründung der Visegrád-Gruppe im Februar 1991.Danach wurde er zum Vertreter, ja sogar Vorreiter jener Länder des Ostblocks, die sich um eine Mitgliedschaft in der NATO bemühten. Die moralisch begründete Äquidistanz zu den Blöcken (auch zu den Ideologien Kommunismus und Kapitalismus) hat Havel damit realpolitisch begraben.

 

Václav Klaus und Václav Havel haben sich erst im November 1989 kennen gelernt. Klaus war bis dahin kaum bekannt, wenige Monate später aber bereits einer der drei beliebtesten Politiker des Landes. Wie Havel die Samtene Revolution personifizierte, so war Klaus (insbesondere für den Westen) der Garant für die Transformation zur liberalen Marktwirtschaft. Nicht ganz zu recht, da er bis zuletzt an den verstaatlichten Banken festhielt. So wurden zwar die Betriebe privatisiert (die Coupon-Privatisierung wurde auch zum Vorbild für Russland), aber weiterhin staatlich finanziert. Mangels strenger Auflagen muss man eigentlich von staatlicher Subventionierung sprechen. Im Oktober 1990 vermerkte Havel daher in einer privaten Notiz, die Verspätung der Wirtschaftsreformen sei „von Klaus und seiner Mafia verschuldet, die sich als die geistigen Väter der radikalen Reform ausgeben, doch eine Scheiße reformiert haben, sie haben kein einziges Wirtschaftsgesetz vorgelegt, nichts. Sie sind nur auf Ruhm in ausländischen Fernsehstationen aus“. (S. 86)

 

Über die Restitution des Palais Lucerna an Václav Havel und seinen Bruder Ivan sagte der Präsident rückblickend (2007): „Wenn du die Reformen repräsentierst, deren wichtige Bestandteile auch die Restitution und das Ethos der privaten unternehmerischen Tätigkeit sind, solltest du selbst mit gutem Beispiel vorangehen und dich zu deinem Familienvermögen bekennen.“ (S. 279) Damit begab sich Havel aufs Glatteis, denn auf das Bekenntnis folgte schnell die Erkenntnis, dass das altehrwürdige Palais baufällig war und zur Erhaltung das Einkommen eines Präsidenten nicht ausreichte. So verkaufte er seinen Anteil an den Konzern Chemapol, der damals unter der Leitung des ehemaligen Geheimdienstinformanten Václav Junek stand. Der Biograf moniert, es „störte Havel nicht sonderlich, falls der Spitzel nicht gegen den so genannten Inneren Feind eingesetzt worden war. Jetzt, im Dezember 1997, war er jedoch durch das Geschäft mit Junek Vorwürfen wegen Heuchelei ausgesetzt. In dem Moment, als Havel seinen Teil der Lucerna Junek verkaufte, wurde es schon öffentlich bekannt, dass Chemapol bei den Banken hoch verschuldet und nicht imstande war, die Schulden zurückzuzahlen.“ (S. 280)

 

Nach der Teilung des Landes war Havel von Juli 1992 bis Februar 1993 als „freischaffender Staatsmann“ (S. 147) weiterhin aktiv. Der Liedermacher Vladimir Merta warnte Havel vor der neuerlichen Übernahme des Staatsamtes: „Ein Präsident, der diese moralische Zerstörung mit seiner Reputation und seinem Prestige für einen Anteil an der Illusion von Macht und Einfluss deckt, wird Teil des Zersetzungsprozesses der Werte, die ihn an die Macht getragen haben.“ (S. 147 f) Der Chronist Daniel Kaiser kommentiert diesen Brief: „Diese Freunde des Präsidenten waren sich nicht klar darüber, welches Suchtpotenzial die zweieinhalb Jahre in der Spitzenpolitik bei Havel geweckt hatte und dass er nicht mehr jener Agent der nichtpolitischen Politik war, den sie in ihm sehen wollten.“ (S. 148)

 

Der Biograf geht vermutlich einen Schritt zu weit, wenn er Havel unterstellt, er habe sich mit der Unterzeichnung des Lustrations-Gesetzes dem rechten Lager angenähert. Als „Lustration“ bezeichnete man die Überprüfung von Ministern und hochrangigen Mitgliedern des Staatsapparates in Hinblick auf mögliche Geheimdienstaktivitäten in Zeiten des Kommunismus. Alexander Dubček verweigerte als Präsident der Föderalversammlung die Unterschrift unter das Gesetz, Havel unterzeichnete schließlich mit der Randnotiz, man möge das Gesetz umgehend novellieren. „Doch keiner seiner Vorschläge wurde von den Abgeordneten angenommen.“ (S. 149)

 

Nicht zuletzt, so meint Daniel Kaiser, ging Havel „mit seiner Auffassung von Politik als angewandte Moral“ bei der deutsch-tschechischen Frage „regelrecht baden“ (S. 206) Havel provozierte schon kurz nach seiner ersten Wahl in das Amt des Präsidenten seine eigenen Anhänger, indem er die unrühmliche Vertreibung der Deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs thematisierte. Er wollte in dieser Frage eine schnelle Klärung, musste aber dann bis Anfang 1997 kämpfen, bis Helmut Kohl bereit war die Deutsch-Tschechische-Erklärung zu unterzeichnen. Sie enthielt „unter anderem die Verpflichtung, zur Entschädigung tschechischer NS-Opfer beizutragen, und das ersehnte Versprechen beider Parteien, aber vor allem das faktische Versprechen Deutschlands gegenüber der Tschechischen Republik, die gegenseitigen Beziehungen nicht mehr ‚mit politischen und juristischen Fragen aus der Vergangenheit‘ zu belasten, mit anderen Worten, dass man keine vermögensrechtlichen Ansprüche stellen würde. Prag bedauerte die Opfer bei der ‚Vertreibung und Aussiedlung‘ der Sudetendeutschen, nicht aber die Vertreibung oder Aussiedlung an sich.“ (S. 205)

 

Auf eine Geste des deutschen Kanzlers zur Ehrung der tschechischen NS-Opfer wartete Präsident Havel vergeblich. „Die fünf Jahre mit dem markantesten Politiker des damaligen Europa, Helmut Kohl, hatten Václav Havel die Erkenntnis eingebracht, dass man in der internationalen Politik auf ostentative Freundschaft und persönliche Sympathien ebenso wenig bauen konnte wie in der Innenpolitik.“ Vor dem US-Kongress im Februar 1990 forderte Havel noch den Primat der Moral: „Wir sind noch immer nicht imstande, Moral über Politik, Wissenschaft und Wirtschaft zu stellen.“ (S. 185) Die zweite Hälfte seiner Amtszeit, die insgesamt dreizehn Jahre dauerte, war daher immer wieder von Unmut und Frustration gezeichnet und konzentrierte sich vorwiegend auf die Verteidigung des Erreichten, zumal Mitte 1998 der Sozialist Miloš Zeman die Regierungsgeschäfte übernahm.

 

Ein Treppenwitz der Geschichte: seine beiden größten innenpolitischen Gegner beerbten Václav Havel in seinem Amt. Zunächst Václav Klaus von 2003 bis 2013 und seit 2013 Miloš Zeman. Und die Banken wurden schließlich unter dem Ex-Kommunisten Miloš Zeman als Regierungschef (1998 bis 2002) privatisiert.

 

Moralisches Resümee

Ist es wirklich so banal, dass jede Macht korrumpiert? Ist es wirklich so banal, diese Frage mit „ja“ zu beantworten? Der Chronologie der Ereignisse folgend ist es so. Würde man die Grundwerte von Václav Havel mit den Begriffen Friede, Harmonie, Anstand, Treue und Ehre eingrenzen, so würde man wohl die christlich-konservative Grundhaltung des Menschen Havel treffend beschreiben. Für Friede und Harmonie steht nachweislich auch seine Politik, nicht nur seine persönliche Neigung. Doch wie steht es mit Anstand, Treue und Ehre? Ich nenne sie Tugenden der Ritterlichkeit. Dies deutet an, dass sie nicht aus unserer Zeit sind. Anständig ist, wer seinem Stande gemäß handelt. Ehr und Treu gelten, wenn überhaupt, heute nur noch dem eigenen Clan, der eigenen Lobby oder Partei gegenüber. Václav Havel hat dagegen sehr bewusst die Position des überparteilichen Präsident eingenommen. Seine Friedensmission konnte er als „Dissident“ (Havel selbst distanziert sich von diesem Begriff in seinem Essay „Moc bezmocnych“), als „Revolutionär“ (mit Samthandschuhen) und als Präsident verwirklichen. Beigetragen haben dazu Werte, die er nicht explizit formuliert, aber doch gelebt hat. Es sind – gemäß Moral 4.0 die „5 goldnen V“: Verantwortung, Vertrauen, Veränderung, Vernetzung und Verzeihen.

 

Beginnend mit dem Wert Verzeihen, hat Havel zwar keine Love and Forgivnesse Kampagne wie Nelson Mandela durchgeführt, sehr wohl aber dafür gesorgt, dass die Lustrationen nicht zu Rache- und Hassprozessen werden. Seine Bereitschaft Verantwortung zu übernehmen, auch wenn sie zeitweise eine Bürde war, hat Havel sein Leben lang unter Beweis gestellt und damit „Das Prinzip Verantwortung“ gelebt. (Das gleichnamige Buch des Philosophen Hans Jonas, 1979 erschienen, hat Havel höchst wahrscheinlich nicht gekannt, doch es sagt etwas aus über den Begriff „Zeitgeist“.) Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser – dieses Zitat wird dem kommunistischen Diktator Stalin zugeschrieben. Es ist evident, dass Havel Vertrauen bevorzugt hat, auch wenn er Kontrolle für die Absicherung der Errungenschaften der Samtenen Revolution benötigt hat.

 

Bleiben zwei Werte, die erstmals in Moral 4.0 als Grundwerte konstatiert wurden und somit nicht explizit in Havels Denken und Entscheiden eingeflossen sein können. Veränderung, die auch Offenheit für Neues impliziert, ist jedoch der moralische Kern jeder Revolution, die immer gegen Traditionen bestehender Moralen aufbegehren. Moral an sich impliziert Bewahrung des Bewährten, ist somit immer konservativ und am Ende ihrer jeweiligen Wirkungsgeschichte zu träge, um die Notwendigkeit der Veränderung zu sehen. Hier braucht es eine Revolution, und das Jahr 1989 hat in ganz Osteuropa die Beweise geliefert, dass Revolutionen friedlich sein können. 1989 war somit die „Widerlegung“ von 1789 und 1917, aus denen Historiker den Schluss gezogen haben, dass Revolutionen immer gewaltsam sein müssen. Nicht zuletzt ist die Vernetzung ein Wert, der erst im Zeitalter von Internet 4.0 zum allumfassenden Grundwert geworden ist, jedoch schon in politischen Diskursen der 1970er und 1980er Jahren als Antithese zu den bestehenden Hierarchien entwickelt wurde.

 

Zusammenfassend fällt die moralische Bewertung von Václav Havel auf Basis moderner Grundwerte besser aus, als im engen Rahmen konservativer Moralvorstellungen, die der Dissident gefordert, der Präsident aber nicht immer konsequent verfolgen konnte, wie der Biograf wahrheitsgemäß berichtet. Doch der Kampf für die Freiheit – neben Gerechtigkeit ein ewiger Grundwert – kann ja auch nicht darin bestehen, dass ein Leben frei von Widersprüchen bleibt.

 

(Links zeigen weiterführende Infos über die geannten Personen auf wikipedia)

Alle Zitate aus:

 

Daniel Kaiser

Václav Havel. Der Präsident (1990-2003)

Böhlau Verlag, Wien Köln Weimar 2017

 

Siehe auch: 

Václav Havel: Versuch, in der Wahrheit zu leben

Richard von Weizsäcker: Der Weg zur Einheit

Philipp Ther: Eine Geschichte des neoliberalen Europa

Erhard Busek: Lebensbilder

 

 

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