logo

bild

durch die Brille von Egon Friedells Kulturgeschiche der Neuzeit

Da die MORAL 4.0 vorwiegend einen Beitrag zur Neuorientierung Europas im 21. Jahrhunderts leisten wollte, ist die Geschichte der Moralen darin zu kurz gekommen. Ein Jahr nach Fertigstellung meines Buches konnte ich mir den Luxus leisten, mich zwei Wochen lang nur mit Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“ zu beschäftigen. Ermutigt von Friedells Feststellung - „Die ganze Geistesgeschichte der Menschheit ist eine Geschichte von Diebstählen.“ - möchte ich mit seiner Hilfe das Defizit der MORAL 4.0 endlich kompensieren.

 

Die Genealogie der Moral durch die Brille von Egon Friedells Kulturgeschiche der Neuzeit ist demnach ein Plagiat im besten Sinne. Friedell wörtlich: „Alexander bestiehlt Philipp, Augustinus bestiehlt Paulus, Giotto bestiehlt Cimabue, Schiller bestiehlt Shakespeare, Schopenhauer bestiehlt Kant. Und wenn einmal eine Stagnation eintritt, so liegt der Grund immer darin, daß zu wenig gestohlen wird. Im Mittelalter wurden nur die Kirchenväter und Aristoteles bestohlen: das war zu wenig. In der Renaissance wurde alles zusammengestohlen, was an Literaturresten vorhanden war: daher der ungeheure geistige Auftrieb, der damals die europäische Menschheit erfaßte. Und wenn ein großer Künstler oder Denker sich nicht durchsetzen kann, so liegt das immer daran, daß er zu wenig Diebe findet. Sokrates hatte das seltene Glück, in Plato einen ganz skrupellosen Dieb zu finden, der sein Handwerk von Grund aus verstand: ohne Plato wäre er unbekannt.“

 

Heute ein Plagiat von Friedells epochaler Kulturgeschichte zu fabrizieren ist so leicht wie nie zu vor. Denn sein Werk ist vollständig im Internet unter dem Link http://gutenberg.spiegel.de/autor/egon-friedell-981 abrufbar. Die für die Genealogie der Moral relevanten, urheberrrechtlich nicht mehr geschützten Stellen hab ich daher einfach via copy-paste übernommen. Wahrhaftig keine großartige Kulturleistung, aber für den einen oder anderen Leser hoffentlich eine Anregung, sich weiter in das Werk von Friedell zu vertiefen. Dies reicht mir als moralische Legitimation meines Unterfangens.

 

Um die Zitate besser zu verstehen vorab eine kurze Erläuterung zur Methodik von Friedell. Er meint: „Alle Dinge haben ihre Philosophie: Der erste dieser Grundpfeiler besteht in unserer Auffassung vom Wesen der Geschichtschreibung. Wir gehen von der Überzeugung aus, daß sie sowohl einen künstlerischen wie einen moralischen Charakter hat; und daraus folgt, daß sie keinen wissenschaftlichen Charakter hat.“ Kunst (insbesondere Dichtkunst) und Moral (insbesondere Sitten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen) stehen somit in der Betrachtung Friedells immer im Vordergrund, Politik, Wirtschaft und Wissenschaft treten in den Hintergrund, bleiben aber natürlich auch bei Friedell der rote Faden seiner Erzählungen.

 

Im Gegensatz zur wissenschaftlichen, akademischen Historikern sieht Friedell in Anekdoten und Legenden, die in unterschiedlichen Zeiten unterschiedlich gedeutet werden, das Wesen der Geschichtschreibung: „Jedes Zeitalter hat ein bestimmtes nur ihm eigentümliches Bild von allen Vergangenheiten, die seinem Bewußtsein zugänglich sind. Die Legende ist nicht etwa eine der Formen, sondern die einzige Form, in der wir Geschichte überhaupt denken, vorstellen, nacherleben können. Alle Geschichte ist Sage, Mythos und als solcher das Produkt des jeweiligen Standes unserer geistigen Potenzen: unseres Auffassungsvermögens, unserer Gestaltungskraft, unseres Weltgefühls.“ Darüber hinaus spielen Anekdoten eine bedeutende Rolle: „Die Geschichte ist ein großer Konvexspiegel, in dem die Züge der Vergangenheit mächtiger und verzerrter, aber um so eindrucksvoller und deutlicher hervortreten. Mein Versuch intendiert nicht eine Statistik, sondern eine Anekdotik der Neuzeit... Eine Universalgeschichte läßt sich nur zusammensetzen aus einer möglichst großen Anzahl von dilettantischen Untersuchungen, inkompetenten Urteilen, mangelhaften Informationen.“ Geschichtschreibung, ja die Geschichte selbst, ist letztlich eine besondere Form der Dichtkunst: „Die Geschichte der verschiedenen Arten des Sehens ist die Geschichte der Welt.“

 

Wie viele Solitäre der Geschichte ist der Egon Friedell (Geburtsname Egon Friedmann) ein Solitär der Geschichtschreibung. Er hat sein Abitur erst beim vierten Anlauf geschafft, dagegen hat er sein Philosophie-Studium 1904 schon nach neun Semestern mit einer Disseration über Novalis abgschlossen. „Geboren am 21.1.1878 in Wien, zweimal in Österreich und zweimal in Preußen maturiert, beim viertenmal glänzend bestanden. In verhältnismäßig kurzer Zeit in Wien zum Doktor der Philosophie promoviert, wodurch ich die nötige Vorbildung zur artistischen Leitung des Kabaretts ‚Fledermaus’ erlangte“, schrieb Friedell selbstironisch und Felix Salten kommentierte: „Da stand nun Egon Friedell, Doktor der Philosophie, Hofnarr des Publikums und, wie die meisten Hofnarren, dem Gebieter weit überlegen.“

 

Seine Narrenfreiheit konnte sich Friedell dank seiner Erbschaft durchaus leisten. Nach dem 1. Weltkrieg vernichtete allerdings die Inflation sein Vermögen. Doch als Journalist, Schriftsteller und Kulturphilosoph, sowie Schauspieler, Kabarettist und Conférencier hatte er weiterhin sein Auskommen. Auf der Flucht vor der SA sprang Friedell am 16. 3. 1938 vom Balkon seiner Wiener Wohnung in den Tod. Sein epochales Werk „Kulturgeschichte der Neuzeit“, veröffentlicht 1925 bis 1931 in drei Bänden, hat überlebt, ist jedoch – wohl aufgrund des Umfangs von 1700 Seiten – im Bewusstsein unserer Zeit nicht so lebendig wie es sein sollte.

 

Egon Friedell

Kulturgeschichte der Neuzeit: Die Krisis der europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg

Gebundene Ausgabe: 1600 Seiten

Verlag: C.H.Beck

ISBN-13: 978-3406636417

 

Egon Friedell 500

 

Genealogie der Moral durch die Brille von Egon Friedells Kulturgeschiche der Neuzeit

oder

Kulturgeschichte der Moralen

 

Man hat sich seit einiger Zeit daran gewöhnt, drei verschiedene Arten der Geschichtschreibung zu unterscheiden: eine referierende oder erzählende, die einfach die Begebenheiten berichtet, eine pragmatische oder lehrhafte, die die Ereignisse durch Motivierungen verknüpft und zugleich Nutzanwendungen aus ihnen zu ziehen sucht, und eine genetische oder entwickelnde, die darauf abzielt, die Geschehnisse als einen organischen Zusammenhang und Verlauf darzustellen. Diese Einteilung ist nichts weniger als scharf, weil, wie man auf den ersten Blick sieht, diese Betrachtungsarten ineinander übergehen: die referierende in die verknüpfende, die verknüpfende in die entwickelnde, und überhaupt keine von ihnen völlig ohne die beiden anderen zu denken ist. Wir können uns daher dieser Klassifikation nur in dem vagen und einschränkenden Sinne bedienen, daß bei jeder dieser Darstellungsweisen einer der drei Gesichtspunkte im Vordergrund steht, und in diesem Falle gelangen wir zu folgenden Ergebnissen: bei der erzählenden Geschichtschreibung, der es in erster Linie um den anschaulichen Bericht zu tun ist, überwiegt das ästhetische Moment; bei der pragmatischen Darstellung, die es vor allem auf die lehrhafte Nutzanwendung, die »Moral« der Sache abgesehen hat, spielt das ethische Moment die Hauptrolle; bei der genetischen Methode, die eine geordnete und dem Verstand unmittelbar einleuchtende Abfolge aufzuzeigen sucht, dominiert das logische Moment. Dementsprechend haben auch die verschiedenen Zeitalter je nach ihrer seelischen Grundstruktur immer eine dieser drei Formen bevorzugt: die Antike, in der die reine Anschauung am stärksten entwickelt war, hat die Klassiker der referierenden Geschichtschreibung hervorgebracht; das achtzehnte Jahrhundert mit seiner Neigung, alle Probleme einer moralisierenden Betrachtungsweise zu unterwerfen, hat die glänzendsten Exemplare der pragmatischen Richtung aufzuweisen; und im neunzehnten Jahrhundert, wo die Tendenz vorherrschte, alles zu logisieren, in reine Begriffe und Rationalitäten aufzulösen, hat die genetische Methode die schönsten Früchte gezeitigt. Jede dieser drei Behandlungsarten hat ihre besonderen Vorzüge und Schwächen; aber so viel ist klar, daß bei jeder von ihnen ein bestimmtes Interesse das treibende und gestaltende Motiv bildet, sei es nun ästhetischer, ethischer oder logischer Natur: den entscheidenden, obschon stets wechselnden Maßstab des Historikers bildet allemal das »Interessante«. Dieser Gesichtspunkt ist nicht ganz so subjektiv, wie er aussieht: es herrschen über ihn, zumindest in demselben Zeitalter, große Übereinstimmungen; aber er ist natürlich auch keineswegs objektiv zu nennen.

 

WERBUNG

MORAL 4.0

 

Viele Geschichtsforscher haben daher ihre Ansprüche noch mehr herabgesetzt und vom Historiker bloß verlangt, daß er den jeweiligen Stand unserer Geschichtskenntnisse völlig objektiv widerspiegle, indem er sich zwar der allgemeinen historischen Wertmaßstäbe notgedrungen bedienen, aber aller persönlichen Urteile enthalten solle. Aber selbst diese niedrige Forderung ist unerfüllbar. Denn es stellt sich leider heraus, daß der Mensch ein unheilbar urteilendes Wesen ist. Er ist nicht bloß genötigt, sich gewisser »allgemeiner« Maßstäbe zu bedienen, die gleich schlechten Zollstöcken sich bei jeder Veränderung der öffentlichen Temperatur vergrößern oder verkleinern, sondern er fühlt außerdem den Drang in sich, alle Tatsachen, die in seinen Gesichtskreis treten, zu interpretieren, zu beschönigen, zu verleumden, kurz, durch sein ganz individuelles Urteil zu fälschen und umzulügen, wobei er sich allerdings in der exkulpierenden Lage des unwiderstehlichen Zwanges befindet. Nur durch solche ganz persönliche einseitige gefärbte Urteile nämlich ist er imstande, sich in der moralischen Welt, und das ist die Welt der Geschichte, zurechtzufinden. Nur sein ganz subjektiver »Standpunkt« ermöglicht es ihm, in der Gegenwart festzustehen und von da aus einen sichtenden und gliedernden Blick über die Unendlichkeit der Vergangenheit und der Zukunft zu gewinnen. Tatsächlich gibt es auch bis zum heutigen Tage kein einziges Geschichtswerk, das in dem geforderten Sinne objektiv wäre. Sollte aber einmal ein Sterblicher die Kraft finden, etwas so Unparteiisches zu schreiben, so würde die Konstatierung dieser Tatsache immer noch große Schwierigkeiten machen: denn dazu gehörte ein zweiter Sterblicher, der die Kraft fände, etwas so Langweiliges zu lesen.

 

Christus im Esel

Man würde aber sehr irren, wenn man nach alledem in Occam einen Freigeist, etwa einen Vorläufer Voltaires oder Nietzsches erblicken wollte. Occam (1288-1347) war zwar ein energischer Anhänger der damaligen »Modernisten«, die gegen die Alleinherrschaft des Papstes und für die Unabhängigkeit des Kaisers und der Bischöfe kämpften, aber er war gleichwohl streng gläubig: seine skeptischen und kritischen Grübeleien sind gerade der stärkste Ausdruck seiner Religiosität. Der Gedanke der unbegrenzten göttlichen Willkür hat für ihn nichts Aufreizendes, sondern etwas Beruhigendes: seine Gottesunterwürfigkeit kann sich nur in der Vorstellung einer durch nichts, auch nicht Kausalität und Moral eingeschränkten Allmacht Genüge tun; dadurch, daß er die Unbeweisbarkeit der christlichen Mysterien betont, entzieht er sie ein für allemal jedem Angriff und Zweifel; und durch die Einsicht in die Unverständlichkeit, ja Widersinnlichkeit der Kirchenlehren wird der Glaube für ihn erst zu einem Verdienst. Das Prinzip des credo quia absurdum hat durch ihn noch einmal in gewaltiger Stärke und feinster Vergeistigung seine höchste und letzte Zusammenraffung erfahren. Der Nachdruck liegt bei ihm noch vollkommen auf dem credo: daß Glauben und Wissen zweierlei sind, gerade das rettet den Glauben. Wie aber, wenn die Menschen es sich eines Tages einfallen ließen, den Akzent auf das absurdum zu legen und zu folgern: daß Glauben und Wissen zweierlei sind, das vernichtet den Glauben und rettet das Wissen? Ein flacher, aber höchst gefährlicher Gedanke; auf den Occam aber noch nicht gekommen ist. Vielmehr ist er unermüdlich bemüht, alle möglichen Widersinnigkeiten herbeizuschleppen, um sie mit dem Glauben in Verbindung zu bringen. So spricht er einmal einen Satz aus, der uns wie eine furchtbare Blasphemie anmutet, zu seiner Zeit aber nicht den geringsten Anstoß erregt hat: wenn es Gott gefallen hätte, so hätte er sich gerade so gut in einem Esel verkörpern können wie in einem Menschen.

 

Folie circulaire

Die Folge einer solchen vollkommenen Desorientierung ist zunächst ein tiefer Pessimismus. Weil man an den Mächten der Vergangenheit verzweifeln muß, verzweifelt man an allen Mächten; weil die bisherigen Sicherungen versagen, glaubt man, es gebe überhaupt keine mehr. Die zweite Folge ist ein gewisser geistiger Atomismus. Die Vorstellungsmassen haben keinen Gravitationsmittelpunkt, keinen Kristallisationskern, um den sie sich anordnen könnten, sie werden zentrifugal und lösen sich auf. Und da es an einer übergeordneten Zentralidee fehlt, so ist auch das Willensleben ohne Direktive, was sich aber ebensowohl in Abulie wie in Hyperbulie, in Hemmungsneurosen wie in Entladungsneurosen äußern kann. Die Menschheit verfällt abwechselnd in äußerste Depression und Lethargie, in stumpfe Melancholie und Reglosigkeit oder in die maniakalischen Zustände eines pathologischen Bewegungsdrangs: es ist jenes Krankheitsbild, das die Psychiatrie als folie circulaire beschreibt. Und schließlich kann es nicht ausbleiben, daß der Mangel an Fixierungspunkten sich auch in der Form der Perversität äußert: auf allen Gebieten, in Linien, Farben, Trachten, Sitten, Denkweisen, Kunstformen, Rechtsnormen wird das Bizarre, Gesuchte, Verborgene, Verzerrte, das Disharmonische, Stechende, Überpfefferte, Abstruse bevorzugt: man gelangt zu einer Logik des Widersinnigen, einer Physik des Widernatürlichen, einer Ethik des Unsittlichen und einer Ästhetik des Häßlichen. Es ist wie bei einem Erdbeben; die Maßstäbe und Richtschnüre der gesamten normalen Lebenspraxis versagen: die tellurischen, die juristischen und die moralischen.

 

Fachdilletantismus

Ihre Organisation war noch ganz patriarchalisch. Sie war keine bloße wirtschaftliche Interessengemeinschaft, sondern eine ethische Vereinigung. Der Geselle trat nicht bloß ins Geschäft, sondern auch in die Familie des Meisters ein, der für die moralische Führung seiner Schüler ebenso verantwortlich war wie für ihre technische Ausbildung. Und ebenso stand auch das einzelne Mitglied zur Zunft nicht so sehr in einer juristischen Unterordnung als in einem Pietätsverhältnis. Es war weniger eine ökonomische Frage als eine Ehrensache, möglichst gute Arbeit zu liefern, und es war andererseits die vornehmste Pflicht der Zunft, ihren Mitgliedern entsprechende Absatzmöglichkeiten und, wenn sie krank oder arbeitsunfähig wurden, Pflege und Nahrung zu bieten. Gesellige Zusammenkünfte in besonderen Versammlungsräumen, korporative Feste und Umzüge, gemeinsame Grußformen und Zechsitten erhöhten den Zusammenschluß. Es konnte allerdings nicht ausbleiben, daß dieser schöne Genossenschaftsgeist mit der Zeit in kleinliche Bevormundung, steife Routine und gedankenlose Schablone degenerierte: in all das, was man noch heute im abfälligen Sinne als »zünftlerisch« bezeichnet. Alles war peinlich geregelt: die Anrede und das Zutrinken so gut wie die Zahl der Lehrlinge und die Größe des Ladens. Es soll kein Geselle zum Bier gehen, bevor die Glocke drei geschlagen hat; es sollen an einem Abend nicht mehr als sechs Gulden verspielt werden; es darf nur Selbstverfertigtes verkauft werden, damit kein Großbetrieb entstehen kann; die Werkstatt muß auf die Gasse gehen, damit die Arbeit stets kontrolliert werden kann; es darf keine neue Arbeit übernommen werden, ehe die früher bestellten fertig sind; an subtilen Sachen darf nur bei Tageslicht gearbeitet werden: alles gut gemeint und vernünftig, aber auf die Dauer doch unerträgliche Beschränkungen. Es fehlte eben an der Möglichkeit, große Zusammenhänge zu überblicken, Widersprüche organisch zu vereinigen: der Mangel jeder Betrachtungsweise, die auf die nächste Realität eingeengt ist. Das ganze Leben schreitet in einem schweren Panzer von Formen und Formeln einher, in die es von einem geistfremden Fachdilettantismus gezwängt worden ist; überall ein zähes Kleben an der kompakten Materie des Daseins ohne schöpferische Freiheit, ohne Fruchtbarkeit, ohne Genialität. Aber auf seinem Gebiet hat dieser Materialismus große Siege errungen: es war eine Blütezeit der treuen, sorgfältigen, kunstreichen Materialbearbeitung, der Veredelung und Verschönerung aller Stoffe, der Achtung und Andacht vor dem Arbeitsgegenstand, von der wir uns zur heutigen Zeit kaum mehr einen Begriff machen können, wo kein Prunkhaus mehr mit so viel Erfindungsgeist, Liebe und Eigenart gebaut wird wie damals ein Türschloß oder ein Kleiderschrank; es war das Heroenzeitalter des Philistertums.

 

Wirklichkeitsdichtung

Das stärkste und sprechendste Denkmal des erwachenden Realismus aber ist die Dichtung der Zeit. Wir haben schon die starke Verbreitung der satirischen Literatur erwähnt. Nun ist ja die Satire an sich schon immer eine realistische Dichtungsgattung: sie kann ihren Gegenstand nicht treffen, wenn sie nicht auf das Tatsächliche, auf alle konkreten Einzelzüge ausführlich und präzis, man möchte fast sagen: liebevoll eingeht. Verwandt mit den satirischen Fastnachtsspielen waren die in ganz Europa beliebten Moralitäten, moralités, moralities, lehrhafte Schauspiele, in denen die Laster und Tugenden auftraten, zunächst freilich als trockene Allegorien, aber doch auch scharfe Lichter auf die wirklichen Zustände werfend. Auch in die Passionsspiele waren regelmäßig burleske Szenen eingeflochten, was den unverbildeten Geschmack der damaligen Menschheit noch nicht verletzte, und hier bot sich reichliche Gelegenheit zu bunten Lebensbeobachtungen und saftigen Aktualitäten. Und in Frankreich entstand die Farce, die schon alle Bestandteile der modernen Posse enthält: im »Maître Pathelin«, dem berühmtesten Exemplar dieses Genres, steckt bereits embryonal der ganze Molière. Auch das Epos bewegte sich in der Richtung der didaktischen Charakterzeichnung, obgleich es nirgends auf dem Kontinent die klassische Höhe der »Canterbury tales« erreicht hat, in denen Chaucer, der »englische Homer«, eine komplette vielfarbige Landkarte der englischen Gesellschaft entworfen hat, in allen ihren Schattierungen, Abstufungen, Übergängen und Mischungen: »Ich sehe«, sagt Dryden, »alle Pilger, ihre Stimmungen, Züge, ja ihren Anzug so deutlich, als hätte ich mit ihnen im ›Tabard‹ in Southwark zu Nacht gespeist.«

 

Papa triumphans

Auf dem Programm des Konstanzer Konzils standen drei Hauptpunkte: die causa unionis, die causa reformationis und die causa fidei; keine dieser drei Fragen ist einer Lösung auch nur nähergeführt worden. Der Konziliarismus war fast eine Art republikanischer Bewegung innerhalb der Kirche, er wollte das Papsttum zu einer Scheinmonarchie, einer Art Mikadotum herabdrücken und die eigentliche Regierung in die Hände des Konzils, des Parlaments der Bischöfe legen; und das Endresultat war nicht nur der Sieg des Kurialismus über alle diese Bestrebungen, sondern der päpstliche Absolutismus.

Das Papsttum war also völlig siegreich, siegreicher denn je. Es triumphierte über die Bischöfe und Landeskirchen, es triumphierte über die Ketzer und Häretiker, es triumphierte über Kaiser und Reich; nur an einem Orte triumphierte es nicht, dem wichtigsten, dem allein entscheidenden: in den Herzen der Menschen. Und darum versinkt es mit einem Male in Ohnmacht, Altersstarre und Asphyxie. Äußere Siege und Niederlagen entscheiden nichts im Gange der Geschichte. Der Kaisergedanke war tot, nicht wegen seiner Niederlagen, der Papstgedanke starb, trotz seiner Siege. Wie der Schatten eines Gespenstes liegt er nur noch über der Welt. Der Papst herrschte unumschränkt; aber man nahm ihn nicht mehr ernst. Man glaubte ihm nicht mehr. Darauf allein aber kommt es an. Er war nicht mehr der Nachfolger Petri, der Hirt der Völker, der Statthalter Christi, er war nur noch der mächtige Kirchenfürst, der oberste Bischof, ein König mit Krone, Geldsack und Kirchenstaat, ein reicher alter Mann wie andere auch.

Was half ihm seine Tiara? Er war nicht mehr der Heilige Vater. Alle mochten ihm huldigen, ihm die Herrschaft über diese Welt zuerkennen, ihm die Herrschaft über jene Welt zuerkennen, es half nichts: er war es nicht. Hätten sich die Päpste redlich bemüht – soweit es in ihren geringen menschlichen Kräften stand – Ebenbilder nicht etwa Christi, nein: bloß Petri zu werden, Ebenbilder des einfältigen, mißverstehenden, wankelmütigen, aber in seiner Einfalt gotterfüllten, in seinem Unverstand inbrünstig nach Verständnis ringenden, in seinem Wankelmut ergreifend menschlichen guten alten Fischers: ganz Europa wäre noch bis zum heutigen Tage katholisch und gläubig katholisch.

So aber dachten sie es sich nicht. Sie wollten ein unerlaubtes Geschäft machen: die Seelen beherrschen und zugleich irdische Herrscher sein; sich von dem Gesetz emanzipieren, daß die eine Herrschaft nur durch den Verzicht auf die andere erkauft werden kann. An dieser Unwahrheit, dieser Unmöglichkeit, dieser verwegenen und ungerechten Herausforderung der moralischen Weltordnung sind sie gescheitert.

 

Geldwirtschaft mit schlechtem Gewissen

Und nun bricht noch, um das Unglück voll zu machen, über diese religionslose Welt die trübe gelbe Flut des Goldes herein. Reichtum, zumal plötzlicher, wirkt immer depravierend; hier aber handelte es sich noch dazu um eine junge, gänzlich unvorbereitete Menschheit, der die mittelalterliche Anschauung von der Sündhaftigkeit des Geldnehmens noch tief im Blute saß. »Gott hat drei Leben geschaffen: Ritter, Bauern, Pfaffen. Das vierte schuf des Teufels List: das Leben Wucher genennet ist«, sagt Freidank; er versteht aber unter Wucher offenbar jegliche Art von Handel. Dieselbe Ansicht faßt Cäsarius von Heisterbach in dem lapidaren Satz zusammen: Mercator sine peccamine vix esse potest. Auch die Bettelmönche vertraten ähnliche Anschauungen, und wenn man sie darauf verwies, daß ja selbst der Heiland sich des Geldes bedient habe, so erwiderten sie: »Ja, aber den Säckel gab er Judas!« Und noch Geiler von Kaisersberg sagt: »Mit Geld wuchern heißt nicht arbeiten, sondern andere schinden in Müßiggang.« Man hatte offenbar die Ansicht, daß Zinsnehmen, Warenvertreiben, überhaupt aller Erwerb, der nicht aus der Erzeugung, sondern aus dem Umsatz von Gütern fließt, nur eine feinere und verstecktere Form des Betruges sei. Diese Auffassung ist gar nicht so paradox, wie sie dem modernen Empfinden auf den ersten Blick erscheinen mag; wir bekennen uns zu ihr bis zu einem gewissen Grade noch heute, nämlich in der sogenannten guten Gesellschaft. Auch dort nämlich würde eine Person sogleich der sozialen Achtung verfallen, wenn man von ihr erführe, daß sie sich damit befaßt, Freunden und Bekannten gegen Zinsen (und seien es auch ganz bürgerliche Zinsen) Geld zu leihen oder ihnen mit Nutzen (und sei es auch ein ganz bescheidener Nutzen) Gegenstände weiterzuverkaufen: hier hat sich also ein ethisches Prinzip, das früher alle Welt beherrschte, noch in einem Kreis, der gewissermaßen eine Enklave des Anstands und der guten Sitten bildet, lebendig und wirksam erhalten. Übrigens ist es noch gar nicht so lange her, daß man in England auf das Prädikat gentleman nur Anspruch erheben konnte, wenn man keine merkantile Beschäftigung ausübte.

Das Handwerk galt nicht als Handel und war es auch nicht, denn hier wurde die Arbeit bezahlt, nicht die Warenvermittlung, wie denn auch in den meisten Fällen die Rohstoffe noch von der Kundschaft geliefert wurden: man brachte dem Schneider Tuch, dem Schuster Leder, dem Bäcker Mehl, dem Lichtzieher Wachs. Nun gab es aber doch schon zahlreiche Personen, die von Kauf und Verkauf lebten. Diese befanden sich nun in einer sehr sonderbaren psychischen Verfassung. Einerseits teilten sie selber die Anschauungen des Zeitalters, andererseits wollten sie aber doch von ihrer einträglichen Beschäftigung nicht lassen: sie trieben Handel, aber mit schlechtem Gewissen. Ein solcher Zustand mußte aber sehr demoralisierend wirken, indem er Desperadogefühle erzeugte: man empfand sich als outlaw, als jenseits von Gut und Böse des Zeitalters und geriet so in die Psychose des Immoralisten.

 

Das Weltbordell

Wenn wir jetzt auf die Unsittlichkeit des Zeitalters zu sprechen kommen, so müssen wir dabei zunächst zweierlei erwägen: erstens, daß im Grunde jedes Zeitalter »unsittlich« ist, und zweitens, daß Unsittlichkeit oft nichts anderes bedeutet als eine höhere freiere kompliziertere Form der Sittlichkeit. In unserem Falle aber wird man doch wohl sagen dürfen, daß jenes normale und sozusagen legitime Ausmaß an Sittenlosigkeit, das wahrscheinlich zum eisernen Bestand der Menschheit gehört, beträchtlich überschritten worden ist und daß alle jene Lebensäußerungen, die vielleicht unter anderen Umständen als Ausdruck einer wachsenden Vorurteilslosigkeit und einer feineren Empfindlichkeit für sittliche Nuancen angesprochen werden könnten, hier ganz im Gegenteil die Symptome eines moralischen Starrkrampfs, einer völligen Anästhesie gegen alle sittlichen Empfindungen darstellen.

Fühlte sich Rudolf von Habsburg sozusagen moralisch exterritorial, weil er in seinem extremen Materialismus ethische Gesichtspunkte überhaupt nicht bemerkte, so kam bei Friedrich eine ganz ähnliche Geisteshaltung dadurch zustande, daß er diese Gesichtspunkte tief unter sich erblickte. Er war ungefähr das, was Nietzsche unter einem »freien Geist« versteht: von einer großartigen Gewissenlosigkeit, einer antiken Ruchlosigkeit, wie sie etwa in Gestalten wie Alkibiades und Lysander verkörpert ist, dabei, wie fast alle freien Geister, »abergläubisch«, der Astrologie und Nekromantik ergeben, alles Geschehen mit dem kalten Blick des Fatalisten abmessend, der sich als Schachfigur einer blinden und oft absurden Notwendigkeit empfindet. Es steht dazu in gar keinem Widerspruch, daß er zugleich ein eminent wissenschaftlicher Kopf war, Studien und Untersuchungen förderte, die der damaligen Anschauung als wertlos oder gottlos erschienen, Universitäten, Bibliotheken und den ersten zoologischen Garten gründete, ein geradezu leidenschaftliches Interesse für Naturkunde besaß, selber eine ausgezeichnete ornithologische Abhandlung verfaßte und alles in die Einflußsphäre seines Hofes zu ziehen suchte, was vorwärtsdrängend, geistig regsam, philosophisch orientiert war: in den Dichtern freilich hat er, obgleich er selber einer der ersten war, die italienische Verse schrieben, ebenfalls nur politische Werkzeuge erblickt, aber er hat sich ihrer in unvergleichlich großzügigerer und verständnisvollerer Weise bedient als Rudolf. Dabei war er aufs tiefste von seinem Gottesgnadentum durchdrungen, das er aber auf eine für mittelalterliche Ohren höchst befremdliche Weise als eine naturgesetzliche Notwendigkeit definierte.

 

Eine Parallele

Fassen wir alles noch einmal zusammen, so ergibt sich eine frappierende Ähnlichkeit mit unserer Zeit. Daß wir in einer Periode der epidemischen Psychosen leben, bestreitet heute wohl niemand mehr, und Meinungsverschiedenheit herrscht nur noch über den Sinn dieser Erscheinungen. Schon der Mensch des Fin de siècle war der typische Maléquilibré aus seelischer Überfülle. Der Pest entspricht der Weltkrieg, [Vergleiche „Spanische Grippe“ → 25 bis 50 Millionen Todesopfer. Aktuelle Bücher zum Thema:

1918 - Die Welt im Fieber: Wie die Spanische Grippe die Gesellschaft veränderte

von Laura Spinney

Die Spanische Grippe: Eine Geschichte der Pandemie von 1918

von Harald Salfellner]

und wenn jemand bei dieser noch bezweifeln wollte, daß sie eine Schöpfung des Zeitalters gewesen sei: beim Weltkrieg wird es gewiß niemand in Abrede stellen können. (Von der »Schuldfrage«, einer Frage für Volksschüler, sehen wir hier natürlich ab: kein Kampf zwischen zwei gleichstarken Mächtegruppen kann entstehen, wenn nicht beide Teile wollen.) Ferner sehen wir heute dieselbe große Auflösung der bisherigen herrschenden Mächte, die das ausgehende Mittelalter charakterisiert. Das Ideal, das das politische Leben der letzten Generationen beseelte, war der Konstitutionalismus: er hat sich ebenso vollständig ausgelebt wie seinerzeit der Kaisergedanke, weder die Rechte noch die Linke nimmt ihn mehr ernst, die vorwärtstreibende Idee ist hier Diktatur des Proletariats, dort Diktatur eines Einzelnen: Cäsarismus. Was im Mittelalter die Kirche war, das war in den letzten Jahrhunderten die offizielle Wissenschaft, die Organisation der Gelehrten. Die ganze mittelalterliche Kultur war klerikal, alles Große, das damals geschaffen wurde, ist von Geistlichen geschaffen worden: in ihren Händen lag nicht nur die Kunst, die Wissenschaft und die Philosophie, sondern auch das höhere Handwerk, der rationelle Feldbau und die Industrie; sie haben nicht nur Dome und theologische Systeme gebaut, sondern auch Straßen und Brücken, sie haben nicht nur Bildung und Moral ins Volk getragen, sondern auch Wälder gerodet und Sümpfe ausgetrocknet; wo das Leben Fortschritte macht, erblicken wir sie am Werk, ob es sich um Buchmalerei und aristotelische Dialektik handelt oder um Stallfütterung und Dreifelderwirtschaft. In derselben dominierenden geistigen Position befand sich die zünftige Wissenschaft in den letzten Menschenaltern. Sie erhob, ganz ebenso wie seinerzeit die Kirche, den Anspruch, im vollen und im alleinigen Besitz der Wahrheit zu sein und jedem Lebenskreis und Beruf dogmatisch vorschreiben zu dürfen, was er zu denken und zu tun habe: dem Künstler, dem Forscher, dem Soldaten, dem Kaufmann, dem Arbeiter; sie war im vollsten Sinne des Wortes unsere Religion: das, woran wir wirklich glaubten. Sie besaß, und besitzt bis zum heutigen Tage, eine wohlgegliederte, sorgfältig abgestufte Hierarchie von hohen und niederen Würdenträgern, der nur der Papst fehlt, sie verfolgt mit pfäffischer Unversöhnlichkeit und Kurzsichtigkeit jegliche Häresie und wacht eifersüchtig darüber, daß niemand ihre Gnadengaben spende, der nicht ihre Weihen: die Prüfungen besitzt. Nun fußte aber die Macht der Kirche auf zwei Bedingungen: daß sie wirklich im Besitz der geistigen Hegemonie war und daß ihre Diener von ehrlich idealem Streben erfüllt waren. Um die Wende des Mittelalters begannen diese beiden Grundlagen zu verschwinden: die Kultur geriet immer mehr in die Hände der Laien, und die Majorität der Geistlichen übte ihren Dienst auf eine mechanische und banausische Weise. Und dazu kam noch, daß ein neues Weltbild heraufdämmerte, das der Kirchenlehre durchaus widersprach. In ganz derselben Situation befindet sich heute die Berufsgelehrsamkeit. Der Glaube an sie ist zusammengebrochen: er lebt nur noch in den niederen Schichten und bei den geistig Rückständigen; ihr Anspruch, eine weltumspannende katholische Lehre, eine Universitas zu sein, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten, sie ist auf keinem Kulturgebiete mehr führend; und aus ihrem Schoße gehen keine unfehlbaren Kirchenväter, großen Konfessoren und kühnen Märtyrer mehr hervor, sondern nur noch Dutzendbeamte, Lippengläubige und Pfründner, in denen nicht der Heilige Geist lebt, sondern der profane Wunsch nach Brot und Ansehen.

 

Blüte des Frühkapitalismus

Wenn auch eine außerordentliche Steigerung des Wirtschaftslebens für die Entwicklung des ganzen Weltteils bezeichnend ist, so hat sie doch nirgends eine solche Intensität erlangt wie in den großen italienischen Handelszentren. Während, wie wir gesehen haben, der nordische Mensch den Übergang zur Geldwirtschaft nur unvollkommen und unter vielerlei moralischen und praktischen Hemmungen vollzog, erlebten Oberitalien und Toskana bereits eine Blüte des Frühkapitalismus, gefördert durch eine Reihe von Erfindungen, die den merkantilen Verkehr ungemein erleichterten und belebten. Noch heute bedient sich ja die Kaufmannssprache fast lauter italienischer Fachausdrücke, zur Erinnerung daran, daß die Lombarden die Schöpfer dieser nützlichen Einrichtungen waren.

die Plutokratie war damals doch eine wesentlich andere Sache als heutzutage, eine Angelegenheit der heroischsten Leidenschaft und fanatischsten Kühnheit: für die Hegemonie der Firma wurde das Leben eingesetzt. Heute bekämpfen sich große konkurrierende Handelshäuser höchstens durch Wahlbestechungen, gekaufte Journalisten und inspirierte Parlamentsinterpellationen.

... Was aber die Finanzgebarung aller dieser Stadtrepubliken zu einem Unikum innerhalb ihres Zeitalters macht, ist die hellsichtige Energie und großartige Gewissenlosigkeit, von der sie getragen ist: im Mittelpunkt der Geschäftsmoral (wenn diese contradictio in adjecto gestattet ist) steht bereits der Gelderwerb als Selbstzweck, als lebengestaltendes Pathos, als stärkste Äußerungsform des Willens zur Macht. Im übrigen ist nichts für das Wirtschaftsleben Italiens charakteristischer als die Tatsache, daß die Juden darin nur eine sehr untergeordnete Rolle spielten: man brauchte sie nicht; man war geschäftlich noch viel talentierter als sie.

 

Geburt der Revolverpresse

Die Feder beginnt überhaupt bereits eine dominierende Macht zu werden, und es entwickeln sich die ersten energischen Anfänge der Presse und ihrer vollendetsten und konsequentesten Existenzform: der Revolverpresse. Hierfür ist zunächst überhaupt die ganze soziale Erscheinung der Humanisten maßgebend, die, bei allen ihren Verdiensten um die Hebung der allgemeinen Bildung und des Spezialinteresses für die Offenbarungen der antiken Kultur, doch zweifellos eine moralische Pest waren, indem sie durch ihr Vorbild und ihre Maximen lehrten, daß uneinschüchterbare Frechheit, absolute Gesinnungslosigkeit, maßlose Selbstberäucherung, dialektische Gedankenjongliererei und hemmungslose Unbedenklichkeit in der Wahl der polemischen Mittel die Hauptvehikel zum Ruhm und Erfolg seien. Sie haben mit einer Selbstverständlichkeit und Unverblümtheit, die sich selbst heute nur bei Winkelblättern findet, aus ihrer Meinung ein Geschäft gemacht: und sämtliche Praktiken, deren sich die heutige Presse bedient, sind von ihnen bereits mit vollendeter Virtuosität gehandhabt worden: die Verdrehung der Tatbestände und die Verdächtigung der Motive; der Griff ins Privatleben; die scheinbare Objektivität, die den Tadel um so glaubwürdiger macht; die versteckte Attacke, die die Gefährlichkeit der offenen nur erst ahnen läßt, und dergleichen mehr. Ebenso haben sie sich bereits untereinander aufs erbittertste bekämpft. Ihre Macht beruhte, ganz ähnlich wie bei der heutigen Journalistik, nicht bloß auf ihrem Witz, ihrer Schreibfertigkeit und ihrer Fälligkeit, schwer eingängige Themen in eine populäre und gefällige Form zu bringen, sondern auch auf ihrer Herrschaft über ein Material, das nur ihnen vollkommen zugänglich war: nur ist es heute das sogenannte Nachrichtenmaterial, dessen Verbreitung ein Privileg der Zeitungen bildet, während es sich damals um die Vermittlung des wiederentdeckten antiken Bildungsstoffes handelte. Insofern standen sie höher als die modernen Journalisten, denn sie waren nicht nur fast alle außerordentlich unterrichtet, sondern auch von einem begeisterten Eifer, ja Furor für das Altertum erfüllt, und so wird man ihrem geistigen Streben, bei aller ihrer sittlichen Verkommenheit, eine gewisse Idealität nicht absprechen können.

Natürlich waren viele von ihnen auch moralisch gänzlich einwandfreie Persönlichkeiten, und andere wiederum haben eine solche Energie und Ingeniosität entwickelt, daß auch die Nachwelt ihnen als wahren Giganten ihres Gewerbes die Bewunderung nicht zu versagen vermochte. Namentlich zwei von ihnen sind ebenso unsterblich geworden wie Raffael oder Machiavell: nämlieh der bereits mehrfach erwähnte Vasari und Pietro Aretino. Vasari übte eine Geschmacksdiktatur von einer so unwidersprochenen Geltung, wie sie später nie wieder einem Rezensenten beschert worden ist.

 

Machiavell (1469 - 1527)

Wir sagten vorhin, die italienische Renaissance habe keinen einzigen Philosophen hervorgebracht. Sie hat aber etwas besessen, was vielleicht ebensoviel wiegt: einen praktischen Beobachter, Schilderer und Beurteiler von höchster Klarheit, Schärfe und Weite des Blickes: Machiavell.

Er betrachtet den Staat als ein Naturphänomen, ein wissenschaftliches Objekt, das beschrieben und zergliedert, dessen Anatomie, Physiologie und Biologie exakt erforscht werden will: ohne »Gesichtspunkte«, ohne Theologie, ohne Moral, ohne Ästhetik, ja selbst ohne Philosophie. Dies war völlig neu. Wie der Zoologe über Haifisch, Königstiger und Kobra nicht aburteilt, sie nicht »böser« findet als Pudel, Hase oder Schaf, sondern bloß ihre Lebensbedingungen und die günstigsten Voraussetzungen für das Gedeihen ihrer Art festzustellen sucht, so steht Machiavell zu der Erscheinung des »Herrschers«, die er zu ergründen bemüht ist, und er hat diese Aufgabe in bewunderungswürdiger Weise gelöst, weshalb Lord Aston sehr richtig bemerkt hat, die ganze neuere Geschichte sei »ein commentarius perpetuus zu Machiavell«.

Machiavell war ein ebenso phantasievoller und leidenschaftlicher »Wiederbeleber der Antike« wie nur irgendeiner seiner Zeitgenossen und ein ebenso verderblicher und falscher. Was ihm nämlich vorschwebt, ist die Polis, und zwar in ihrer latinisierten Form. An der Spitze seiner politischen Theorie steht der Satz: »Staat ist Macht.« Er wünscht die Rückkehr zur Volksbewaffnung, zum altrömischen Stadtpatriotismus, zum nationalen Königtum. Er vergaß aber dabei, daß eine solche Rekonstruktion in einer Zeit, die das umwälzende Erlebnis des Christentums hinter sich und den Aufstieg zur paneuropäischen, ja zur Weltpolitik unmittelbar vor sich hatte, ein Ding der Unmöglichkeit war. Sein Ideal war bekanntlich Cesare Borgia, der nicht bloß ein gewissenloser Schurke, sondern auch – was für einen Staatsmann viel kompromittierender ist – ein prinzipienloser Abenteurer war.

 

Der »Immoralismus«

Dies führt uns zur moralischen Bilanz der Renaissance. Die geheimnisvolle Atmosphäre von Schönheit und Laster, Geist und Gewalttat, Reiz und Fäulnis, in die die Renaissance eingebettet ist, hat die Phantasie der Nachwelt dauernd beschäftigt: sie hat ebenso die Entrüstung aller bürgerlichen Gehirne entfacht, die sich eine andere Welt als ihre erleuchtete polizierte und paragraphierte nicht vorstellen können, wie die Begeisterung aller Gymnasiastengehirne, die über eine gewisse verdorbene Pubertätsphantasie ihr ganzes Leben lang nicht hinauskommen. Beide haben natürlich unrecht.

Zunächst ist zu bedenken, daß die meisten Verbrechen der Renaissance von offiziellen Persönlichkeiten begangen wurden, also sozusagen in amtlicher Eigenschaft, und daß dieselben Menschen außerhalb ihrer beruflichen Raub- und Mordpraxis oft sehr liebenswerte, ja edelmütige Charaktere waren: selbst von einem solchen Prachtexemplar von Renaissancescheusal wie dem Papst Alexander Borgia wird berichtet, daß er im Privatleben gut, milde, ohne Rachsucht, ein Freund und Wohltäter der Armen war. Die meisten Personen aber, die nicht politisch tätig waren, haben eine ebenso friedliche und harmlose Existenz geführt wie zu allen Zeiten; zumal an den Künstlern, in denen doch gerade die bestimmenden Züge der Zeit versammelt waren, bemerken wir fast niemals etwas von jenem sprichwörtlichen Renaissanceimmoralismus. Auch hat es niemals an großen Gegenspielern der öffentlichen Verderbtheit gefehlt, großen Unbedingten, düster heroischen Übermenschen des Moralismus, an ihrer Spitze Savonarola, das Gewissen von Florenz, der vom Ideal der Florentiner, dem soave austero, freilich nur die zweite Hälfte mit dämonischer Energie verkörperte, ein großer Prophet, aber kein Christ im Sinne Christi, da ihm das Proportionierte, das Menschliche, das große Verzeihen, die Anmut fehlt.

Weil wir nun dieses friedliche Nebeneinander von Talent und Verworfenheit, von feinstem Geschmack und raffiniertester Niedertracht, diesen Wetteifer vollendetster Geistesbildung mit vollendetster Verruchtheit nicht mehr begreifen können, pflegen wir zu sagen: es kann nicht so gewesen sein, im Innern müssen sich diese Menschen doch schuldig und unglücklich gefühlt haben. Wir müßten aber im Gegenteil sagen: diese Menschen müssen sich unbedingt schuldlos und glücklich gefühlt haben, sonst hätten sie diese Dinge niemals begehen können. Die Naivität der Renaissance ist die Wurzel ihrer Laster. Wir müssen, wenn wir die Schilderungen jener Schandtaten lesen, bei allem moralischen Schauder dennoch die Grazie, die Wohlerzogenheit, die Formvollendung, man möchte fast sagen: den Takt bewundern, mit dem die Leute sich damals hintergingen, ausplünderten und umbrachten. Der Mord gehörte damals ganz einfach zur Ökonomie des Daseins, wie heutzutage ja auch noch die Lüge zur Ökonomie des Daseins gehört. Unser Zeitungswesen, unser Parteiwesen, unsere politische Diplomatik, unser Geschäftsverkehr: dies alles ist auf einem umfassenden System der gegenseitigen Belügung, Übervorteilung und Bestechung aufgebaut. Niemand findet etwas daran. Wenn ein Politiker aus Gründen der Staatsraison oder im Interesse seiner Partei einem anderen Zyankali in die Schokolade schütten wollte, so würde die ganze zivilisierte Welt in Entsetzen geraten; daß aber ein Staatsmann aus ähnlichen Motiven betrügt, Tatsachen fälscht, heuchelt, intrigiert: das finden wir ganz selbstverständlich. Die Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts befanden sich eben noch in einer Verfassung, die den gelegentlichen Mord zu einem Ferment des sozialen Stoffwechsels, man möchte fast sagen: zu einer gesellschaftlichen Umgangsform machte; so wie eben heute noch jede Art »Korruption« ein unentbehrliches Ingrediens des öffentlichen und privaten Verkehrs bildet. Dies sind nur Grade.

 

FORTSETZUNG FOLGT

 

Banner Philosophische Praxis