Rezension des Buches
Michael Ley
Die letzten Europäer. Das neue Europa
ISBN 978 3 00 055876 4
Osnabrück 2017
Wenn es darum geht, die Apokalypse zu beschreiben, so geht es natürlich nicht um wissenschaftliche Prognosen, sondern darum, die Bedrohungsszenarien in schwarz-weiß oder in grellen Farben darzustellen, kurz den Teufel an die Wand zu malen. Michael Ley geht einen Schritt weiter. Er nennt den Teufel beim Namen: Angela Merkel.
„Angela Merkel ist – nach Adolf Hitler – die größte Rechtsbrecherin der neueren deutschen Geschichte: Als mächtigste Politikerin Europas öffnete sie alle Tore für die Islamisierung des Kontinents und gefährdet dadurch den Bestand der europäischen Zivilisation.“ (S. 101)
Man kann von einem Apokalyptiker natürlich nicht verlangen, dass er in der Analyse bei Adam und Eva und dem Sündenfall beginnt. Man könnte aber schon erwarten, dass sein historischer Horizont bis an den Beginn unserer Zivilisation reicht. Der Beginn unserer Zivilisation sind die Evangelien, insbesondere die Bergpredigt, in der zumindest ein Grundwert unser Zivilisation vorformuliert war: jeder Mensch ist gleich vor Gott. Daraus direkt abgeleitet sind die Menschenrechte und die Demokratie.
Artikel 1 der UNO-Menschenrechtsdeklaration vom 10. Dezember 1948
Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.
Unser Common Sense über die Demokratie in der pointierten Fassung von Winston Churchill
„Die Demokratie ist die schlechteste aller Staatsformen, ausgenommen alle anderen.“
Beginnen wir mit der Betrachtung der Bedrohungsszenarien nicht im Jahr 2015, mit der Flüchtlingswelle, die damals erst Deutschland erreicht hat (obwohl sie lange vorher schon da war), sondern im Jahr 2008, das der Welt die größte Finanzkrise nach den 1930er Jahren gebracht hat. Im Kontext der der Analyse der strukturellen Probleme der EU geht Ley auch in aller Kürze auf den ESM (Europäischen Stabilitätsmechanismus) zur Rettung der Banken ein. Die Ursachen-Analyse bewältigt er in exakt einem Satz:
„Die Verursacher der Krise sind – man kann es nicht oft genug wiederholen – nicht die Spekulanten, sondern die führenden Politiker und Parteien der Eurozone selbst.“ (S. 34)
Man kann den Satz wirklich nicht oft genug wiederholen. Selbst wenn man allen Bürgern Europas vorschreiben würde, sie müssten diesen Satz täglich, gleichsam als Morgengebet, wiederholen – die Aussage würde trotzdem niemals zutreffen, weil eine Aussage, die Ursache und Wirkung verwechselt, niemals richtig sein kann, solange unsere (europäischen) Gesetze der Logik gelten.
Tatsache ist das politische Versagen infolge der Finanzkrise. Man könnte ein ganzes Buch damit füllen, um aufzulisten, dass nach 2008 tausende Politiker aller Länder, aller Coleurs in allen Positionen den Satz gepredigt haben: „Wir müssen die Finanzmärkte beruhigen.“
Das politische Versagen besteht darin, dass es bis heute kein Programm mit der Forderung gibt: „Wir müssen die Finanzmärkte kontrollieren.“ Ein Abklatsch dieser Forderung, nämlich „Wir müssten die Finanzmärkte stärker regulieren“ hat dazu geführt, dass nun der Finanzmarkt so streng reglementiert ist, dass aus dem Finanzmarkt kein Euro, der nicht mit mindestens10 Euro besichert ist, in die Realwirtschaft abfließt. Die Finanzwirtschaft hat sich so zu einem in sich geschlossenen System entwickelt, in dem die Blase täglich anschwillt. Der Realwirtschaft steht nun eine real existierende Irrealwirtschaft gegenüber. Aber das ist ein anderes Thema.
Hier geht es darum zu analysieren, warum es überhaupt zu den Flüchtlingsströmen gekommen ist.
Es gibt Historiker, die in ihrer Ursachenforschung bis zur willkürlichen Aufteilung des Osmanischen Reiches gehen. Ich kenne mich nur in der Zeit aus, die ich selbst erlebt habe und beginne daher Ende 2010, mit den ersten Aufständen in den arabischen Ländern, die Anfang 2011 zum sogenannten Arabischen Frühling geführt haben.
Der Arabische Frühling war, wie wir heute wissen, ein Versagen der Demokratiepolitik des Westens. Ich möchte hier nur kurz darauf hinweisen, dass der Begriff „Westen“ ein schwammiger Begriff ist. Seit dem Fall des Eisernen Vorhangs gibt es keine klare Grenzen mehr zwischen „Westen“ und „Osten“. Trotzdem ist es immer noch üblich, über „den Westen“ zu sprechen, wenn man die mehr oder weniger demokratisch geführten und industriell hoch entwickelten Länder meint.
Genau in dem Sinne behaupte ich: der Westen hat den Arabischen Frühling verursacht – nein, ich will exakt bleiben: mit-verursacht. Schon allein deshalb, weil es im arabischen Raum (außer in Ägypten) nie eine Demokratiepolitik gegeben hat. Die Mit-Verantwortlichen des Westens heißen CIA, Mossad, und Deutschlands Waffenindustrie – um nur drei Beispiele zu erwähnen, auf die Michael Ley in seinen Betrachtungen völlig vergessen hat. Die Mit-Verantwortung des Westens heißt: Verfehlte Demokratiepolitik.
Die demokratieplitische Verfehlung besteht darin, dass die Politiker des Westens von der naiven Prämisse ausgegangen sind, es reiche aus die Diktatoren der Region zu beseitigen und die Demokratien würden dann auf den fruchtbaren arabischen Wüstenböden von selbst erblühen. Die Verfehlung besteht darin, zu übersehen, dass die Diktatoren dieser Länder nicht nur ihre Bürger unterdrückt haben, sondern auch einen Ausbruch der immer schwelenden Stammeskonflikte verhindert haben. Die Beseitigung der arabischen Diktatoren hat keine einzige Demokratie geschaffen, aber dafür gesorgt, dass sich die schwelenden Stammeskonflikte zu einem Flächenbrand ausgebreitet haben.
Infolge dieser gescheiterten Demokratiepolitik hat der Westen nicht das Geringste dazu beigetragen, um die Probleme, die damit losgetreten wurden, zu lösen. So hat er auch in der Friedenspolitik versagt. Keine einzige westliche politische Kraft, ich könnte auch konkreter sagen: kein einziger westlicher Politiker, hat einen Lösungsvorschlag eingebracht, geschweige denn zur Friedensvermittlung beigetragen. Es ist nicht gelungen, dem IS im Irak und in Syrien Einhalt zu gebieten. Wahrscheinlich deshalb, weil man dieses Problem isoliert betrachtet. Der IS ist bekanntlich nur eine von vielen Kriegsparteien in Syrien. Stärker als alle anderen kriegsführenden Gruppierungen ist der IS nur deshalb, weil er sein fanatisches Treiben religions-fundamentalistisch, d.h. ideologisch untermauert. Und für den Westen ist er deshalb relevanter als alle anderen Gruppierungen, weil er seinen Terror exportiert.
Nach dem Versagen der Friedenspolitik ist das Versagen der Flüchtlingspolitik des Westens zu analysieren. Ley interessiert sich nicht für die Frage, warum es in jahrelangen Verhandlungen auf EU-Ebene nicht möglich war, eine faire Quote für die Aufnahme von Flüchtlingen aus den überfüllten Flüchtlingslagern an den Syrischen Grenzen zu finden. Ich behaupte: Europa ist mitverantwortlich für das Schlepperwesen, weil es keinen Kanal geschaffen hat, durch den Flüchtlinge auf legalem und humanem Weg nach Europa gelangen könnten. Die Flüchtlingspolitik ist bis heute gekennzeichnet vom Florianiprinzip: die Probleme der Nachbarn, konkret der Grenzländer, waren den Zentraleuropäern egal, solange es nur in den Mittelmeerländern gebrannt hat.
Dazu ein Beispiel für Ursache und Wirkung: Das Gesetz, wonach das erste Land, das ein Migrant betritt, dessen Versorgung sicherstellen muss, ist natürlich eine Diskriminierung aller Länder mit EU-Außengrenzen. Wie sollte ein Flüchtling aus Syrien z.B. Deutschland als Erstland betreten? Das geht nicht über das Mittelmeer, das geht auch nicht über Land. Aber es wäre möglich mit dem Flugzeug. Und diese Möglichkeit wurde – ich behaupte: menschenrechtswidrig – verhindert, indem der Westen Gesetze erlassen hat, die Fluglinien verpflichten, für alle Fluggäste, die ohne gültiges Visum einreisen, die Haftung und infolge die kompletten Kosten zu übernehmen. Anders gesagt: private Fluglinien wurden und sind gezwungen staatliche Aufgaben (nämlich die Visakontrolle) zu übernehmen.
Tausende Menschen hätten mit einem gewöhnlichen Linienflugzeug, verteilt und wohl geordnet über viele Jahre, den Westen erreichen können. Stattdessen mussten Sie ihr Geld den Köpfen der Schlepperbanden in den Rachen stopfen. Die menschenrechtswidrige Gesetzgebung des Westens ist dafür mit-verantwortlich. Nein, ich stelle richtig: verantwortlich. Wenn ich darauf hinweise, dass jene, die sich jederzeit ein Flugticket hätten leisten können, nicht die Ärmsten und Ungebildetsten sind, sondern die Reichsten und Gebildetsten, wenn ich darauf hinweise, dass diese Menschen tatsächlich eine politische und wirtschaftliche Bereicherung für Europa sind, dann bin ich politisch unkorrekt. Politisch korrekt ist nämlich dafür zu sorgen, dass es allen Flüchtlingen, wirklich allen, gleich beschissen geht! Aber Political Correctness ist ein anderes Thema.
Hier geht es um das Versagen der Demokratiepolitik, der Friedenspolitik und der Flüchtlingspolitik des Westens und die besondere Verantwortung Deutschlands für dieses Versagen als Führungsmacht der EU.
Wer der Verantwortung Deutschlands für dieses komplexe Versagen der vergangenen zehn Jahre einen einzigen Namen gibt – Angela Merkel – der sollte zumindest ein Kapitel der Frage widmen, welche Politik Merkel, die seit 2005 Bundeskanzlerin ist, macht. Der sollte erklären, welche konkreten politischen Entscheidungen Merkels zu dem Desaster geführt haben, in dem sich Europa heute befindet. Allerdings findet sich im aktuellen Buch von Ley nicht einmal ein einziger Absatz über das Politikverständnis von Angela Merkel.
Diesen Absatz will ich hier nachholen:
Die Politik von Angela Merkel ist eine Politik der kleinen Schritte. In diesem Sinne ist sie in Europa wohl die erste, die Karl Poppers Philosophie in Politik gegossen hat. Zur Erinnerung: die offene Gesellschaft zeichnet sich laut Popper dadurch aus, dass sie keine alles überragenden Ideen verfolgt, was zwingend zu Ideologien und zu totalitären oder zumindest autoritären Regimen führen muss. Die Alternative dazu – sofern wir keinen Stillstand sondern Fortschritt wollen – ist die Politik der kleinen Schritte. Jahrelang hatte ich den Verdacht, das sich die Politik von Merkel nach dem Wind dreht. So kann man ihre Arbeit negativ beurteilen. Positiv bewertet entspricht ihr Taktieren und Manövrieren aber genau der von Popper empfohlenen Politik der kleinen Schritte.
Da Merkel nie eine große Idee verfolgt hat, fehlt ihr logischer Weise auch die große Strategie. Aber mit ihrem Taktieren als Politikprinzip hat sie offenbar in den meisten Fällen die Interessen der Mehrheit der Deutschen vertreten. Das zeigen die Wahlergebnisse, die wir wohl anerkennen müssen, wenn wir uns als Demokraten verstehen. Dass Merkels Taktieren in Einzelfällen auch zu großen Ergebnissen führen kann, zeigt das Beispiel Fukushima. Nur eine Woche nach der japanischen Atomkatastrophe hat die Kanzlerin ein Gesetz auf den Weg gebracht, das die vorzeitige Abschaltung der Deutschen Atommeiler vorsieht. Wendehals-Politik könnte der Bundeskanzlerin jeder an der Stelle vorwerfen, der zu Recht daran erinnert, dass Merkel auf Druck der deutschen Atomlobby nur wenige Monate davor einer Verlängerung der Laufzeiten zugestimmt hat. Das entsprechende Gesetz war am 11. März 2011, dem Tag des Reaktorunfalls, bereits in Kraft.
Aus dieser Kurzanalyse der Politik Merkels ziehe ich den Schluss, dass sie ihren berühmt-berüchtigen Satz „Wir schaffen das“ in dem Bewusstsein geäußert hat, dass Deutschland in der Demokratiepolitik, in der Friedenspolitik und in der Flüchtlingspolitik versagt hat – sich aber nicht leisten kann, nun auch noch in der Integrationspolitik zu versagen. Denn an dem Punkt kam die Nazi-Vergangenheit Deutschlands, in der den Juden und anderen Minderheiten ihr Menschenrecht nur aufgrund ihrer Herkunft oder Abstammung verweigert wurde, in den Entscheidungsspielraum der Kanzlerin. Die Beschwörung, dass sich so etwas nie wieder in der Geschichte Deutschlands wiederholen dürfe, wurde längst zur Maxime aller Deutschen, und daher auch zur Maxime von Merkels Entscheidung in der Flüchtlingsfrage.
Ein letzter Absatz über Ursache und Wirkung: Merkel hat gesagt, „wir schaffen das“, nachdem bereits hunderttausende Flüchtlinge in Deutschland und weitere hunderttausende auf der Balkanroute waren. Sie hat nicht gesagt: „wir schaffen das, liebe Flüchtlinge, bitte kommt doch endlich zu uns. Wir brauchen nichts dringender als eine Frischzellenkur.“ Wer Merkels Diktum zur Ursache der Flüchtlingswelle erklärt, der muss dieser Logik folgend auch behaupten, Merkel sei Schuld an der Atomkatastrophe von Fukushima, ja sogar am Tsunami.
Die Flüchtlingswelle – das ist Deutschlands Fukushima.
Das Versagen der europäischen Demokratiepolitik, Friedenspolitik und Flüchtlingspolitik – das ist der Tsunami, der die Flüchtlingswelle ausgelöst hat. Ausgelöst – nicht verursacht. Natürlich ist Europa nicht daran Schuld, dass die Krisenländer, aus denen die Flüchtlingswellen nach Europa überschwappen, an Meeresküsten liegen und somit Tsunami-gefährdet sind.
Fakten und Zahlen über den Integrationsprozess von 1,2 Millionen Flüchtlingen in Deutschland bringt der Spiegel-Artikel "Richtig ankommen".
Siehe auch MORAL 4.0
Bedrohungsszenarien unserer Zeit. Islamismus, what else?
Ergänzung Mai 2019: Vorschnelle Urteile haben dem Autor Michael Ley eine Klage wegen übler Nachrede eingebracht- Über das Verfahren berichtet derStandard.at am 24. April 2019