logo

bild

Ich bin nicht der erste, der erklärt, dass die Demokratie gescheitert ist. Soweit ich sehe, bin ich aber der erste, der philosophisch analysiert, wie Demokratien scheitern. Und mit dem Scheitern meine ich nicht das Ideal der Demokratie, sondern die Demokratien in ihren verschiedenen Ausformungen heute, im Jahr 2017.

 

Zur Erinnerung das Ideal der Demokratie, das wie jedes Ideal sehr einfach ist: in jeder Bevölkerung gibt es zu jeder Zeit unterschiedliche Interessen. Interessensvertreter formieren sich in Parteien (von „pars“ = ein Teil der Bevölkerung) und stellen sich regelmäßig zur Wahl, bei der alle Staatsbürger teilnehmen dürfen. Die Parteien mit den besten Argumenten gewinnen die meisten Mandate. Die Partei(en) mit der Mehrheit der Stimmen be-stimmen dann vier Jahre die Politik des Landes (in dem sie gewählt wurden – ja, daran muss man hier auch mal erinnern).

 

Neuerscheinung: MORAL 4.0

ISBN 9783744890977

 

Beispiel 1, Russland
Nicht zu Unrecht bezeichnet man Russland als „Demokratur“. Der Begriff unterstellt, dass das russische Regime unter Wladimir Putin wie von einem Zaren (Steven Lee Myers. Putin. Der neue Zar) regiert wird, der die Medien absolut kontrolliert und eine Partei beherrscht, deren Mehrheit im Parlament abnickt, was der Zar diktiert hat. Der Westen ist sich weitgehend einig, dass es sich beim politischen System Russlands zu Beginn des 21. Jahrhunderts um eine „Scheindemokratie“ (Die Zeit, 13. Mai 2016) handelt. Immerhin eine gemäßigte Position, denn noch 2011 titelt  das Zentralorgan der deutschen Moralität: „Wahl in Russland: Lupenreine Diktatur“, ohne diese Unterstellung auch nur mit einem einzigen Satz zu begründen. (Die Zeit, 8.12.2011). Doch was ist der Westen? Hier vier Beispiele von westlichen Demokratien - und ihrem Scheitern.

 

Beispiel 2, USA
Schnell haben nach der Wahl von Donald Trump alle US-kritischen EU-Politiker den Schwanz eingezogen und darauf hingewiesen, dass sie selbstverständlich demokratische Wahlen akzeptieren werden – als hätten sie eine andere Wahl! Die Medien, die schon am Tag vor der Wahl die erste Frau als US-Präsidentin gefeiert haben, verwiesen umgehend darauf, dass wieder mal alle Meinungsforscher weit daneben gelegen sind. Motto: schuld sind die anderen. Doch diesmal haben immerhin manche Medien schuldbewusst eingestanden, dass sie aufgrund ihrer Stimmungsmache für das, was sein soll, das Elementarste übersehen haben, was ein Journalist eigentlich sehen müsste, nämlich das, was ist. Aber das ist ein anderes Thema.
Das Thema hier lautet: warum ist die Demokratie gescheitert, konkret im Fall USA? Die US-Demokratie ist gescheitert, noch bevor die Wahl statt gefunden hat. Eine Demokratie ist dann gescheitert, wenn zur Wahl des höchsten Amtes im Lande ausschließlich Vertreter der Plutokratie (siehe wikipedia: Herrschaft des Geldes) antreten können. Ich schreibe hier bewusst „können“, nicht „dürfen“. Natürlich darf jeder unbescholtene Amerikaner zur Wahl antreten, doch ausschließlich Mitglieder (Superreiche) oder Stellvertreter (Berufspolitiker) der Plutokratie können sich auch leisten, einen derartig teuren Wahlkampf zu finanzieren. Damit ist bewiesen, dass in den USA nicht das Volk entscheidet, wer Präsident wird, sondern das Geld.

 

Beispiel 3, Frankreich
Die Wahl am 7. Mai 2017 hat Emmanuel Macron mit 66,1 Prozent der Stimmen gewonnen. „Damit ist das Wahlergebnis das zweitdeutlichste bei Präsidentschaftswahlen in der Fünften Französischen Republik, seitdem das Volk abstimmen darf“, so wikipedia. Nach dieser Rechnung erhielt Marine Le Pen 33, 9 Prozent der Stimmen. Man muss präzisieren: der gültigen Stimmen. Was sonst – soll man vielleicht die ungültigen Stimmen auch zählen? Die Frage klingt absurd, ist aber ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Denn tatsächlich verliert eine wachsende Zahl der Bevölkerung ihre Stimme, nämlich die Nichtwähler. Bei der aktuellen Wahl in Frankreich waren das 25,44 Prozent. Wer nicht wählt, verzichtet freiwillig auf seine Rechte, ist das übliche Argument. Dagegen halte ich, dass die Nichtwähler mit ihrem Boykott, mit ihrer Totalverweigerung zum Ausdruck bringen, dass sie an diesem System nicht mehr teilnehmen wollen. Wie viele der Nichtwähler genau diese Haltung zum Ausdruck bringen wollen und wie viele einfach nicht interessiert sind an Politik, darüber kann man streiten. Meinungsforscher werden dazu sicher bald unbrauchbare Zahlen liefern.

Nicht streiten kann man über folgende Zahlen: sage und schreibe 11,47 Prozent der Wahlteilnehmer haben leere oder ungültige Stimmzettel abgegeben. Kein Meinungsforscher und kein Politkommentator kann bestreiten, dass dies ein eindeutiges Votum gegen beide Kandidaten ist. Wenn man dieses Wähler nicht ignorieren würde, so wäre das Wahlergebnis so darzustellen: 47.568.588 Wahlberechtigte, davon 35.467.172 Wähler die ihre Stimme abgegeben haben. Von diesen (35.467.172 Wähler = 100%) haben 11,47 Prozent keinen der vorgegebenen Kandidaten gewählt, 58,42 Prozent den Wahlsieger und 30,01 Prozent die Wahlverliererin. Eindeutig ist somit nur, dass rund 30 Prozent der Franzosen r Le Pen sind. Es ist anzunehmen, dass mindestens die Hälfte, die Macron gewählt haben, damit nicht für ihn, sondern gegen Le Pen gestimmt haben. Somit bleiben maximal 29 Prozent aller gültigen Stimmen, die für Macron abgegeben wurden. Somit hat letztlich die verbleibende Minderheit, die für Macron ist, darüber bestimmt, wer in den kommenden Jahren französischer Staatspräsident sein wird, und das ist undemokratisch.

 

Beispiel 4, Deutschland
„Wer Bundespräsident wird, darüber entscheiden nicht nur Politiker. Persönlichkeiten aus Kultur, Sport und Gesellschaft sollen der Bundesversammlung einen Hauch von Glamour verleihen“, berichtet „Der Spiegel“ am 16.1.2017. Wie bitte? Gehts noch? Promis stimmen ab? Wie kommen die in das Wahlgremium, die Bundesversammlung? „Entsandt werden sie aus den Bundesländern, die die Hälfte der Wahlleute stellen (die anderen 630 sind die Abgeordneten des Bundestages)“, weiß "Der Spiegel", der in der zitierten Online-Ausgabe die 22 wichtigsten Wahlpromis vorstellt, vom Bundestrainer Joachim Löw (immerhin trainiert er eine Weltmacht) über die Komikerin Carolin Kebekus (die große Gosche zeigt plötzlich kleinlaut auf, wie es ihr die Grünen eingeflüstert haben) bis zu Helmut Markwort, mit seinen 80 immer noch Herausgeber des „Focus“ (solange er seine Hand noch heben kann). Abgesehen von dieser demokratiepolitischen Marotte ist jede Wahl des Deutschen Bundespräsidenten ein abgekartetes Spiel, das derjenige mit Sicherheit verliert, der als erstes aufzeigt. Es gilt als unmoralisch das Amt öffentlich anzustreben, obwohl der Amtsinhaber selbst als Gewissen der Nation bezeichnet wird. Und so wie das Gewissen in der Politik nicht wirklich ernst genommen wird, so wird auch das Amt des Bundespräsidenten in Deutschland nicht wirklich ernst genommen. Nicht nur dieses Polittheater beweist, dass die Demokratie in Deutschland in einem bedenklichen Zustand ist, sondern die Konstruktion des Amtes des Bundespräsidenten an sich ist undemokratisch, da das höchste Amt im Lande einen rein dekorativen Charakter hat. Ja doch, es heißt nicht "dekorativ", sondern "repräsentativ".

ERGÄNZUNG 15.6.2018: Mag. Robert Cvrkal dokumentiert auf fischundfleisch eine Abstimmung im Bundestag, bei der eine Minderheit von 36 Stimmen die Mehrheit von 51 niederstimmt. Und wieviele Abgeordnete hat der Deutsche Bundestag noch gleich? Seit der Wahl 2017: 709

 

Beispiel 5, Österreich
Niemand soll behaupten, ich sei kein Patriot. Deshalb möchte ich nicht versäumen darauf hinzuweisen: auch in Österreich hat die Demokratie längst abgedankt. Schon lange haben wir anstelle der Demokratie die Sozialpartnerschaft, die – was die meisten offenbar schon vergessen haben - vor zehn Jahren in den Verfassungsrang gehoben wurde. Der Artikel 120a (2) im Wortlaut: „Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern.“ Der Effekt ist bekannt: die Regierung legt ein Gesetz vor, die Sozialpartner entscheiden, ob und in welcher Form es angenommen wird. Lange war ich der irrigen Meinung, dass in Österreich die Realverfassung von der parlamentarisch beschlossenen Verfassung in vielen Bereichen abweicht. Wer das Österreichische „Bundes-Verfassungsgesetz mit Nebenverfassungsrecht“, kurz B-VG in die Hand nimmt, weiß aber: die Realverfassung ist die Verfassung. Das B-VG hat als Taschenbuch einen Umfang von 621 Seiten. In Worten: sechshunderteinundzwanzig. Das Prinzip dahinter: jede Regierungsmehrheit, die Gefahr läuft ein verfassungswidriges Gesetz zu erlassen, erhebt dieses Gesetz umgehend in Verfassungsrang. Womit natürlich der Sinn jeglicher Verfassung nicht nur in Frage gestellt, sondern systematisch ausgehebelt wird. Der Sinn einer Verfassung ist nämlich ein kurzer, jedem verständlicher Leitfaden – das Grundrecht, an dem sich weitere gesetzgebende Prozesse orientieren. Wenn das Grundrecht selbst nur noch von Experten, mit Sicherheit aber von keinem einzigen gesetzgebenden Nationalrat verstanden werden kann, dann hat diese Demokratie kein Fundament mehr und kann folglich nicht mehr als Demokratie im ursprünglichen Sinn des Wortes bezeichnet werden.

 

Im übrigen bin ich der Meinung dass auch die Medien, die sich einst selbstbewusst als 4. Macht im demokratischen Gefüge der Gewaltenteilung gesehen haben, demnach logischer Weise einen gewichtigen Anteil am Scheitern der Demokratien haben. Um in Österreich zu bleiben: Vor einer Nationalratswahlen erklären alle Parteien, mit welcher Partei sie nach der Wahl garantiert keine Koalitionen bilden werden. Dies ist eine Missachtung des Volkes schlechterdings. Denn jeder Politiker, der das Prädikat „demokratisch“ verdient, kann immer erst nach einer Wahl – nachdem das Volk entschieden hat und die neuen Mehrheitsverhältnisse klar sind – entscheiden, ob und mit wem er zusammenarbeiten soll!  Ist dann die Wahl geschlagen, so wird ein paar Monate die Frage medial breitgetreten, wer mit wem kann. Kein Journalist stellt die Frage, wer mit wem soll – nämlich aufgrund des Wahlergebnisses, nicht aufgrund der Befindlichkeiten und des subjektiven Wollens einzelner Apparatschiki unterschiedlicher Parteien. (Am Rande sei hier erwähnt: es gibt keinen politischen Willen, sondern nur ein politisches Sollen.) Sobald die Regierung besteht – buchstäblich in der Stunde – beginnen die Spekulationen der Medien darüber, wie lange sie halten wird. Und diese Spekulationen sind dann bis zu den regulären oder vorgezogenen Neuwahlen der Hauptinhalt der Medien, zumindest der Leitmedien, die als 4. Macht endgültig abgedankt haben. Der Hauptgrund ist nicht, dass sie ihre (verfgassungsmäßig nie vorgesehene) Position als 4. Säule der Demokratie verloren hätten, also keine höhre Macht, sondern ihre selbstverschuldete Unmündigkeit: die Leitmedien haben zugelassen, dass Spekulationserstattung die Berichterstattung weitgehend in den Hintergrund drängt.

 

 

Empfehlenswert: Martin G. Petrowsky

Wie deokratisch wir doch alle sind!

Essay in "Der literarische Zaunkönig" Nr 1/2018, im Internet abrufbar als pdf

 

 

Banner Philosophische Praxis