Gastkommentar vom 24.11.2017
Die deutschen Koalitionsprobleme und das Amt des Bundespräsidenten.
Der Ruf nach Neuwahlen, nachdem potenzielle Koalitionsparteien in Deutschland auf keinen grünen Zweig gekommen sind, ist demokratiepolitisch bedenklich. Die erste Pflicht der Parteien besteht darin, jedes Wahlergebnis anzuerkennen und die Entscheidung des Volkes als Auftrag zu nehmen. Neuwahlen auszurufen, wenn den Mächtigen das Ergebnis nicht passt - das hatten wir ja schon! Wann war das bloß? Ja, genau, im Sultanat Recep Tayyip Erdogans vor gerade einmal zwei Jahren.
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Was würden die Parteien denn dem Wahlvolk in weiteren inhaltsleeren Schaukämpfen vor laufenden TV-Kameras Neues servieren außer jämmerlicher Schuldzuweisungen? Statt Verantwortung für das Land zu übernehmen, führen sie nun einen Eiertanz rund um den Altar der Regierung auf. Jeder pocht auf seine Grundsätze, vertritt jedoch in Wahrheit nur Partikularinteressen. Das ist auch gut so, denn es ist das Wesen der Parteien. Partikularinteressen sollen vor jeder Wahl die Diskussionen bestimmen - doch nach der Wahl zählen die Interessen des Landes.
Die Parteien haben in funktionierenden Demokratien vor der Wahl ziemlich gleiche Chancen, um jede Stimme zu kämpfen. Aber sie haben nach der Wahl kein Recht, sich auszusuchen, mit welchen anderen Parteien sie können oder wollen. Nach der Wahl gibt es kein politisches Wollen, sondern nur ein politisches Sollen. Andernfalls wird der Souverän, der Wähler, entmündigt. So aber sind Deutschlands Parteifunktionäre gerade auf dem besten Weg, die Demokratie abzuschaffen.
"Wir brauchen eine starke Regierung"
Absolut undemokratisch, nämlich dogmatisch, steht jetzt im Raum: "Wir brauchen eine starke Regierung" - nicht nur die "Bundesmutti", auch der verhinderte "Bundesvati" predigt es. Sind "wir" (die Deutschen und wir Zuschauer aus Österreich, die sich Sorgen um die Demokratie an sich machen) damit schon wieder oder noch immer in der Sackgasse der Alternativlosigkeit? Da außer dem "Starke Regierung"-Dogma für Politprofis offenbar nichts denkbar ist, hier die Alternativen aus Sicht der praktischen Vernunft - oder: aus Sicht eines Moralisten.
Minderheitsregierung: Sie bedeutet keinen Untergang Deutschlands, nicht einmal eine Schwächung in Europa, sondern nur andere Entscheidungsprozesse im Parlament. Dafür braucht es nur die Abschaffung des Klubzwangs, der sowieso undemokratisch ist.
Konzentrationsregierung: Sie bedeutet ebenfalls keinen Untergang Deutschlands, nicht einmal eine Schwächung in Europa, sondern nur andere Entscheidungsprozesse in der Regierung. Es wird wohl möglich sein, die Interessen des Landes mit einem Minimalkonsens europaweit und weltweit zu vertreten. Nicht alle Interessen aller Wähler, sondern die grundsätzlichen Interessen (moralisch betrachtet: klar formulierte Grundwerte). Dagegen können die Parteien ihre jeweiligen Partikularinteressen in einer Konzentrationsregierung in den ihnen zugeordneten Ministerien vertreten und verwirklichen.
Ja, zugeordnet, und zwar vom Präsidenten, denn keiner hat Lust, sich bis zum Ende der Legislaturperiode die Streitereien anzuhören, wer in welchem Sandkasten spielen darf. Sicher werden 82 Millionen deutsche Bundesbürger jetzt erklären, dass das aus politischen, rechtlichen und sonstigen Gründen nicht geht. Aber denkbar wäre es doch, oder? Das würde allerdings erfordern, dass Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über sich, genauer gesagt über das bisherige Amtsverständnis des deutschen Staatsoberhauptes, hinauswächst. Was nicht besonders realistisch erscheint, wenn man daran denkt, dass der deutsche Bundespräsident nicht vom Volk gewählt wird.
Den Bundespräsidenten wählen Parlamentarier und Promis
"Wer Bundespräsident wird, darüber entscheiden nicht nur Politiker. Persönlichkeiten aus Kultur, Sport und Gesellschaft sollen der Bundesversammlung einen Hauch von Glamour verleihen", schrieb der "Spiegel" am 16. Jänner. Wie bitte? Geht’s noch? Promis stimmen ab? Wie kommen die in das Wahlgremium, die Bundesversammlung? "Entsandt werden sie aus den Bundesländern, die die Hälfte der Wahlleute stellen (die anderen 630 sind die Abgeordneten des Bundestages)", so der "Spiegel", der in der zitierten Online-Ausgabe die 22 wichtigsten Wahl-Promis vorstellte: vom Bundestrainer Joachim Löw (immerhin trainiert er mit dem deutschen Fußballnationalteam eine Weltmacht) über die Komikerin Carolin Kebekus bis zu Helmut Markwort (mit 80 Jahren immer noch Herausgeber des "Focus").
Abgesehen von dieser demokratiepolitischen Marotte ist jede Wahl des Deutschen Bundespräsidenten ein im Vorfeld abgekartetes Spiel, das derjenige mit Sicherheit verliert, der als Erster aufzeigt. Es gilt als "unmoralisch", das Amt öffentlich anzustreben, obwohl der Amtsinhaber selbst als "Gewissen der Nation" bezeichnet wird. Und so wie das Gewissen in der Politik nicht wirklich ernst genommen wird, wurde das Amt des Bundespräsidenten in Deutschland bisher nicht besonders ernst genommen. Wie nun Deutschlands Verfassungsexperten den staunenden Bundesbürgern erklären, hat der Präsident jedoch bei der Regierungsbildung deutlich mehr zu sagen, als bisher bekannt war - mehr, als bisher mit klaren Mehrheitsverhältnissen erforderlich war.
Im Übrigen sollte gelten: "Der Souverän ist der erste Diener des Staates. Er wird gut bezahlt, damit er die Würde seiner Stellung aufrechterhalte; man fordert von ihm, dass er wirksam für das Wohl des Staates arbeite. Ich kann kein Interesse haben, das nicht auch das meines Volkes ist. Sind die beiden unvereinbar, so ist dem Wohlergehen und Vorteil des Landes stets Vorrang einzuräumen." Von wem dieses Zitat stammt? Es steht im politischen Testament von Friedrich dem Großen (1752, zitiert nach Niall Ferguson: "Der Westen und der Rest der Welt").