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Gastkommentar in der Wiener Zeitung vom 19.03.2018

 

500 Wr Zeitung Transatlantisch

 

Der Umgang mit Waffen und mit Spenden illustriert, was die USA und Europa voneinander trennt.

 

Erstmals marschierten Jugendliche nach einem Schulmassaker nach Washington, um gegen das US-Waffengesetz zu protestieren. "School Shootings" sind in den USA keine Einzelfälle, sondern an der Tagesordnung. Insgesamt gab es dort allein in den ersten sieben Wochen dieses Jahres 18 derartige Vorfälle an Schulen und Universitäten, rund 300 waren es in den vergangenen fünf Jahren.

 

Der Präsident der Waffenlobby NRA, Wayne LaPierre, kennt die Lösung für dieses Problem. Bereits 2012 hat er von der Kanzel gepredigt: "The only thing that stops a bad guy with a gun is a good guy with a gun." Es ist kein Geheimnis, dass Donald Trumps Wahlkampf von der NRA gesponsert wurde. Und es ist keine Verschwörungstheorie zu behaupten, dass der jetzige US-Präsident dieselbe Weltanschauung wie der NRA-Präsident vertritt.

 

Für einen Europäer ist es schwer nachvollziehbar, dass diese Einstellung in den USA nicht nur mehrheitsfähig ist, sondern dass die Mehrheit der US-Bürger diese Überzeugung tatsächlich vertritt. Der Begriff der "Mentalität" ist zwar außer Mode geraten, doch es gibt kein besseres Wort als "Mentalitätsunterschied", um die Unvereinbarkeit von US-amerikanischer und EU-europäischer Denkweise zu charakterisieren. Nicht nur in der gängigen Einstellung zur Waffenfrage herrscht Inkommensurabilität. Ein ganz anderer Bereich, der scheinbar nichts mit dem Thema zu tun hat, ist die Einstellung zur Spendenfrage. Doch im Grunde überschneiden sich diese Themen an exakt der gleichen Schnittlinie.

 

Zwei Vordenker werden derzeit gerade ins Licht der europäischen Öffentlichkeit gerückt, um die US-Position auf dem alten Kontinenten salonfähig zu machen: Richard H. Thaler, der im Vorjahr den Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften bekommen hat, und Peter Singer, einer der Gründerväter des Effektiven Altruismus. Singers Buch mit dem gleichnamigen Titel ist 2016 auf Deutsch erschienen, und sein Aufsatz "Hunger, Wohlstand und Moral" wurde 2017 neu aufgelegt, nobilitiert durch ein Vorwort von Bill und Melinda Gates, die meinen: "Peter Singer mag seiner Zeit voraus gewesen sein, als sein Essay zum ersten Mal publiziert wurde, aber heute könnte Singers Zeit gekommen sein."

 

Wenn Spendenweltmeister einen Philosophen in den Olymp heben, dann könnte das Anlass für allerlei Verschwörungstheorien geben. Doch bleiben wir beim Inhalt des Buches: Wenn irgendwo auf dieser Welt Menschen verhungern und ich spende nicht, damit diese Menschen überleben können, dann ist das genauso schlimm, als ob ein kräftiger Mann nicht in einen seichten Teich springen würde, um ein Kind vor dem Ertrinken zu retten. Das ist die Quintessenz des Artikels "Hunger, Wohlstand und Moral", der dazu auffordert, auf jeglichen Überfluss zu verzichten.

 

Können Steuern vermeidende Stiftungen altruistisch sein?

1971 hat Singer diesen Essay unter dem Eindruck von neun Millionen mittellosen Flüchtlingen in Ostbengalen (heute Bangladesch) geschrieben. Er kam damals zur Erkenntnis, dass "die reicheren Staaten durchaus in der Lage [wären], genug Hilfe zu leisten, um deren Leiden auf ein Mindestmaß zu reduzieren. [...] Unglücklicherweise sind die notwendigen Entscheidungen jedoch nicht getroffen worden."

Mit seinem Essay wollte Singer Menschen erreichen, "die dem Effektiven Altruismus einen wichtigen Platz in ihrem Leben eingeräumt haben". Dazu zählte er namentlich Bill Gates und Warren Buffet, die große Beträge ihres Vermögens in ihre Stiftungen eingebracht haben. Ich halte es für möglich, dass einzelne Projekte der Big Spender tatsächlich den Ärmsten dieser Welt helfen. Doch ich möchte bezweifeln, dass Stiftungen von Menschen, die unter anderem deshalb übermenschlichen Reichtum angehäuft haben, weil sie ihr Geld auf der Flucht vor Steuern ständig über den ganzen Globus jagen, durch ihre Spenden zu moralischen Institutionen werden oder gar dem Wesen nach altruistisch sein können.

 

Wie ein roter Faden zieht sich die Aufforderung, anständig zu spenden, auch durch das Buch "Nudge. Wie man kluge Entscheidungen anstößt" von Richard H. Thaler. "Er gilt als einer der weltweit führenden Verhaltensökonomen", schreibt Wikipedia über ihn. Konkret empfiehlt der Nobel-Preisträger die "Give More Tomorrow"-Methode, die einfach darin besteht, via Dauerauftrag einer wohltätigen Organisation zu spenden und den Betrag automatisch jährlich zu erhöhen. Thaler ist überzeugt, dass damit "deutlich mehr Geld für bedürftige Menschen zusammenkäme und man den zerstreuten Spendern gleichzeitig einen Gefallen erweisen könnte, da sie ja schließlich gerne geben wollen, es aber regelmäßig vergessen".

 

Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips

Dass Thaler auch staatliche Lenkungsmanöver (insbesondere in der Bildungs- und Gesundheitspolitik) für sinnvoll hält, rückt ihn aus US-Sicht in die Nähe des Sozialismus - im Amerika LaPierres und Trumps wieder ein Codewort für das Böse schlechthin oder zumindest den Vorhof der Hölle. Mit dem Outing, dass "dies ein Buch über den libertären Paternalismus ist", lehnt sich Thaler weit aus dem Fenster, doch er relativiert umgehend: "Das heißt nicht, dass die Regierung den Menschen sagen soll, wen sie heiraten oder was sie studieren sollen." Was in Europa ja gang und gäbe wäre - so die Implikation dieser tiefschürfenden Klarstellung.

Die Spendenwelt von Thaler und Singer ist die Umkehrung des Subsidiaritätsprinzips, wonach der Staat nur die Aufgaben übernehmen soll, die der Mensch als Individuum nicht bewältigen kann. In dieser Umkehrung muss das Individuum die Verantwortung immer dann übernehmen, wenn Staaten scheitern oder - noch schlimmer - die Politiker nicht bereit oder nicht fähig sind, ihrer Verantwortung gerecht zu werden.

 

Wenn der Staat als natürlicher Feind jedes Unternehmens gilt

Nur ein europäischer Zyniker kann den Vordenkern der US-Weltanschauung unterstellen, dass aus ihrer Logik folgt, die Amerikaner sollten doch mehr als bisher der Waffenlobby NRA spenden. Diese ist ja immerhin eine NGO und könnte dann - als Privatinitiative - bis an die Zähne bewaffnete "good guys" finanzieren, um die bisher wehrlosen Schulen zu beschützen. Vielleicht bin ich ein europäischer Zyniker. Sicher ist nur, dass auch meine Sicht einseitig ist. Einseitig europäisch und somit geprägt von einer Kultur, in der sich noch ein stärkeres Bewusstsein dafür findet, dass der Staat und seine Steuern nicht primär zur Behinderung von Leistungsträgern da sind, sondern zur Finanzierung des Gemeinwohls, während in den USA der Staat als natürlicher Feind jedes Unternehmens gesehen wird. Und die erforderlichen Steuerleistungen sind in dieser Weltanschauung eine Einschränkung der Freiheit jedes Unternehmers, ja sogar jedes Staatsbürgers.

 

Die US-Mentalität, wonach die Spende als freiwillige, zweckgebundene Steuer gesehen wird, ist - ebenso wie die Mentalität, dass Waffen Sicherheit und Freiheit garantieren - ein Beispiel dafür, dass die Amerikaner grundsätzlich anders ticken als die Europäer. Doch sind die Schüler, die jetzt die USA aufrütteln, kein Zeichen des Umdenkens? In diesem Punkt bin ich Pessimist. Oder Zyniker. Diese Bewegung wird so schnell von der Oberfläche verschwunden sein wie "Occoupy Wall Street".

 

Ergänzung 10. August 2019: Über den aussichtslosen Kampf der Waffengegner berichtet die Wiener Zeitung nach Massakern in El Paso und Dayton mit insgeamt 31 Toten: "Doch auch diesmal wird es wohl höchstens ein paar zurückhaltende Gesetzesänderungen, wie ein wenig strengere Überprüfungen von Waffenkäufern, geben. Der Ruf nach drastischeren Maßnahmen ist noch nach jedem Massaker ungehört verhallt."

 

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