Kapitel 2: Die Vernissage
„Es tut mir leid! Ich kann nichts machen. Bitte haben Sie etwas Geduld, ich bin sicher, er wird bald kommen“, entschuldigt sich die Galeristin bei den wartenden Gästen vor dem verschlossenen Eingang zur Galerie der Kunstraum. Es ist 18.50 Uhr, und Hugo Königshofer steckt möglicherweise im Stau irgendwo zwischen Baden und Wien. Seine Frau Larissa – sie trägt wie immer zeitlos mondäne Kleidung, die ihre schlanke Linie betont, heute ganz in Schwarz – bemüht sich mit wachsender Nervosität, Hugo am Handy zu erreichen. Vergeblich. „Bitte warten Sie ein paar Minuten, ich versuche, vom Centermanager einen Schlüssel zu bekommen“, versucht die ansonsten immer coole Galeristin, ihre Nervosität zu verbergen. Vor dem Kunstraum, der sich im Obergeschoss des noblen Einkaufszentrums neben der Oper befindet, haben sich mittlerweile fünfzig bis sechzig Vernissagegäste eingefunden. Unter ihnen die Society-Lady Fiona Pacifico Griffini-Grasser und ihre Busenfreudin Ofina Atlantico Grassini-Griffel. Manche, viele, fast alle kennen einander und stellen Vermutungen an, was mit Königshofer passiert sein könnte. Auffällig, einige orakeln „verdächtig“, dass ein schwerer, schwarzer Vorhang die breite, sonst offene und einladende Glasfront der Galerie verdeckt. Kein noch so kleiner Spalt gibt einen Blick frei in das Innere der Galerie.
Punkt 19 Uhr rüttelt es kurz an der Glastür und man sieht unter dem Vorhang eine Hand, die den Schlüssel in das Schlüsselloch schiebt, zweimal dreht, dann die Tür nach innen zieht und dabei den Vorhang am Eingang wegschiebt. Wie ein deus ex machina löst sich Königshofer aus den Vorhängen und bleibt vor der Tür im Foyer des Einkaufszentrums stehen. „Servus, guten Abend, grüß Gott, servus, freut mich, servus ...“, schüttelt der Galerist jenen Gästen die Hand, die zufällig dem Eingang am nächsten stehen und erhebt dann die Stimme: „Entschuldigen Sie die Wartezeit, bitte einzeln eintreten, nicht drängeln, lasst euch Zeit!“
Der Reihe nach verschwinden die Gäste hinter dem Vorhang.
Königshofer ist diesmal von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, obwohl er sonst eher braunbeige Töne und gelbe Krawatten bevorzugt, sogar eine dicke schwarze Brille hat er auf, obwohl man ihn sonst nur mit Randlosbrillen sieht. Er achtet darauf, dass jeder Gast ein paar Sekunden Zeit bekommt, bevor der Nächste durch den Vorhang in den Kunstraum eintaucht.
„Entschuldigen Sie, die U-Bahn ist 30 Minuten gestanden, offenbar schon wieder ein Selbstmord auf der Linie U4.“ Eine Dame, deren Alter schwer einzuschätzen ist, läuft zwanzig Minuten später atemlos die Stiege zur Galerie herauf und streckt Königshofer die Hand entgegen.
„Kein Problem, freut mich, dass Sie da sind, wir haben noch nicht richtig angefangen“, beruhigt sie der Galerist, „wir warten noch auf ...“
„Wo ist Mary?“, unterbricht ihn die ältere Dame.
Sie ärgert sich, dass sie nicht schon zwei Stunden früher losgefahren ist, um vor der Ausstellung wenigstens ein paar Minuten in Ruhe mit Mary...
„Kommen Sie, trinken Sie zunächst ein Gläschen!“, vermeidet der Galerist eine direkte Antwort und schiebt die Frau durch den Vorhang in die Galerie.
Die 200 Quadratmeter große Galerie, sonst ein hell erleuchteter, hoher, weißer Kubus, ist komplett schwarz gestrichen, und nur sieben Grablichter, die vor riesigen Glasobjekten stehen, spenden mit ihren Funzeln gerade so viel Licht, dass die Besucher nicht aneinander stoßen oder gar über die zerbrechlichen Kunstwerke stolpern.
Königshofer nimmt die Frau am Arm und zieht sie am Publikum vorbei bis zum nur von wenigen Kerzen erhellten Buffet, schenkt ihr ein Gläschen Prosecco ein, nimmt ein zweites Glas, das er leer lässt, greift sich ein Messer, das neben der Schüssel mit den Brotaufstrichen liegt und bringt damit sein Glas zum Klingen. Die hellen Klänge übertönen das dumpfe Gebrabbel, das den Galerieraum füllt, und erzielen schnell die gewünschte Wirkung: Stille.
„Liebe Freunde und Gäste der Galerie“, hebt Königshofer an und füllt allein mit seinem Bass-Bariton, ohne künstliche Unterstützung von Mikro und Verstärker, den großen Raum. „Stille, ja sogar Grabesstille ist heute durchaus angebracht.“
Beim Stichwort „Grabesstille“ dreht eine unsichtbare Hand das Licht auf. Plötzlich steht jedes der sieben Glasobjekte von einem eng fokussierten Strahler beleuchtet gut sichtbar im Raum, so als würde von innen heraus das Licht erstrahlen.
Gleichzeitig setzt das Murmeln des Vernissage-Publikums wieder ein, genau 95 Besucher hat Königshofer bisher gezählt, ein „Buh“, ein „Wa“, ein „Na, des gibts ned!“ übertönen den mittleren Schallpegel, und irgendwo hinten ist ein krächzendes, fast hysterisches Kichern zu vernehmen. Die sieben Glasobjekte erweisen sich als überdimensionierte Glasampullen mit einem Durchmesser von einem halben Meter und einer Höhe von fast zwei Metern. Solche Gläser sind den Gästen aus dem pathologisch-anatomischen Museum der Stadt, das vom Volksmund nur der Narrenturm genannt wird, vertraut.. Allerdings sind im Narrenturm meist nur einzelne Organe in Gläsern unterschiedlicher Größe als Feuchtpräparate für die Ewigkeit aufbewahrt, Lungen, Nieren, Herzen und Hirne konserviert in Formalin. Auch Embroynen und rachitische, früh verstorbene Kleinkinder finden sich bis heute in der Kuriositätenkammer des Narrenturms.
Aber hier, im Kunstraum, schwimmen sieben ausgewachsene Menschen, vier Männer, drei Frauen in sieben Zylindergläsern. Nackt, wie Gott sie geschaffen und ein Konservator sie für die Ewigkeit präpariert hat. Ein Konservator? Wohl eher ein Perverser, zumindest ein Wahnsinniger!
Königshofer wartet die ersten Reaktionen ab und bringt dann mit drei kurzen, messerscharfen Schlägen auf sein Sektglas das Publikum wieder zum Schweigen. „Zunächst muss ich den Kurator Damien First, der aufgrund seiner internationalen Verpflichtungen leider nicht selbst zur Eröffnung kommen konnte, entschuldigen. Damien First hat sein Konzept folgendermaßen auf den Punkt gebracht. Ich zitiere: Erstmals in der Kunstgeschichte findet hier im Kunstraum eine Ausstellung statt, in der die ausstellenden Künstler mit den ausgestellten Künstlern ident sind. Ich darf Ihnen die sieben Künstler der Ausstellung vorstellen: Alfred Castor, Igor Leonskij, Tony Kuss, Ernest Stradal, Wonda McQueen, Marina Besrodnych und ...“
Das Klirren mehrerer Sektgläser unterbricht die Rede des Galeristen. Eine ältere Dame lässt ihr Glas zu Boden fallen. Sie knickt auf einem Bein ein, fällt pirouettenartig nach hinten und reißt die Gläser der hinter ihr stehenden Gäste mit zu Boden. Nur jene, die sich unmittelbar neben ihr befinden, können hören, wie sie fast lautlos haucht: „Mary!“
Die der Dame am nächsten Stehenden blicken auf ein kreidebleiches Gesicht, bedeckt von hellen, grauen Haarsträhnen hinab. Ein schlanker Mann drängelt sich durch die Menge, kniet neben der Frau nieder, fühlt ihren Puls an der Halsschlagader und greift sofort zum Handy, um den Notruf zu wählen. „Machen Sie Platz, machen Sie ein Fenster auf, sie braucht frische Luft!“, versucht er, die Menge auseinander zu treiben. Rund um die Dame bildet sich ein Kreis, fest wie ein Schutzwall hält er die andrängenden Schaulustigen in sicherem Abstand.
Indessen wird das allgemeine Gebrabbel der Menge lauter und lauter. Der Lärmpegel wird unerträglich, einzelne Stimmen wollen sich Gehör verschaffen: „Die Emilie Wonderland! Die Mutter von der Mary!“
„Wos is?“
„Schau her!“
„Wo denn? Wo ist die Mary?“
„Wie kommt der Tony da her? Da Freeedii!“
„Schau, der Tony! Wonda McQueen, die war doch erst …! Ernest!“ „Hat wer den Ernest gesehen? Nein, den Stradal!“
„Dooo! Das gibts ja nicht! Leonskij, der Leonskij! Garantiert, schau auf das Messingschild! Weiter unten.“
„Marina! Die Wonda, die mit Mary in Dings ausgestellt hat!“
„Wann?“
„Des gibts need! Wahnsinn! Marina, ja Marina Besrodnych, na bitte!“
„Blödsinn! Lies selbst! Maria Wonderland, schauts euch das an!“„
„Irrsinn! Ein Wahnsinniger! Der muss ja! Kuss!“
„Bist blöd?“
„Na, der Tony Kuss!“
„Wo? Wie kommt der Alfred Castor?“
„Wie kommt wer?“ „
Echt stark, der Kuss!“
„Wer? Nein!“
„Schau selber! Machts mehr Licht! Polizei!!“
„Polizeiiii!!“ Der zum zweiten Mal aufheulende, schrille Schrei von Ofina Atlantico Grassini-Griffel, der als leicht hysterisch bekannten Busenfreundin der prominentesten Society-Lady Wiens, durchdringt den Lärm der Menschenmenge und bringt sie zum Verstummen.
Wenige Minuten später schieben zwei Rettungsmänner mit einer Tragbahre den Vorhang beim Eingang beiseite, gefolgt vom Notarzt. Wie auf Kommando treten die Leute zurück und geben den Weg frei zu jener Frau, die den Tumult ausgelöst hat. Offenbar hat der schrille Schrei sogar Emilie Wonderland aus ihrer Ohnmacht geweckt. Sie schaut auf, sieht über sich und rundherum starre, verwunderte, verstörte Blicke und hört den Notarzt mit der obligaten Frage:
„Können Sie mich hören? Was ist passiert?“
„Es is nix.“ Sie haucht mehr, als dass sie spricht.
„Wie bitte?“
„Es … ist … nichts.“ Sie betont nun jedes Wort. „Die Mary. Wo ist die Mary ... Helfen Sie mir!“
„Bleiben Sie liegen, bis wir ...“
„Nein, ich will aufstehen!“, sagt sie plötzlich sehr bestimmt, so dass der Notarzt und ein Gast, der Erste Hilfe geleistet hatte, ihr ohne Widerspruch unter die Arme greifen und auf die Beine helfen. Emilie Wonderland geht zwei Schritte bis zu dem Glaszylinder, vor dem sie zusammengebrochen war und schaut ungläubig, aber bestimmt auf die Person, die nackt vor ihr scheinbar schwerelos in Formaldehyd schwebt. Den Kopf leicht nach vorne geneigt, die Augen offen, was den Anblick fast unerträglich macht, die rechte Hand auf der linken Schulter, die linke Hand hinter den Kopf gelegt, schwimmt sie in diesem monströsen Glasobjekt. Es ist tatsächlich die Person, die sie erkannt hatte, bevor sie in Ohnmacht gefallen war: „Die Mary. Ja, das ist sie. Die Mary! Wer war das …? Das muss …. Kann ich telefonieren, hat wer ein Handy?“
Bereitwillig reicht ihr der Notarzt sein Handy.
Exakt sieben Minuten später ist Kommissar Werner Ohnesorg vor Ort. Weit hatte er es nicht, er war um diese Zeit, wie üblich, noch in seinem Büro in der Landesgerichtsstraße. Um 20.20 Uhr trifft er dort ein, wo ein wahrscheinlich perverser Serienmörder seine Gräueltaten zur Schau gestellt hat. Manches hat er nach dem Verschwinden seiner Nichte erwartet, aber das hätte er sich in seinen wildesten Fantasien nicht ausmalen können. Wahrscheinlich deshalb, weil seine Fantasien kaum an die Fakten heranreichen, die er im Laufe seines langen Berufslebens mit eigenen Augen gesehen und in allen Details untersucht hat. Er braucht nicht lange, um zu erkennen, dass die Angaben von Emilie Wonderland, die ihn alarmiert hat, richtig sind. Da steht oder vielmehr schwebt seine Nichte in einem zylindrischen Glasgefäß, ihre markante Nase, ihre Tätowierung, die sich wie eine Perlenkette um denHals legt, und da ist die lange Brandwunde am linken Unterarm - jeder Zweifel ist ausgeschlossen.
Emilie Wonderland, die Schwester des Kommissars, steht blass neben ihm. Sie droht wieder einzuknicken und Ohnesorg legt seinen rechten Arm fest um ihre Schulter. Obwohl auch er schockiert, sogar geschockt ist, leitet der Kommissar routinemäßig die Maßnahmen ein, die in so einem Fall eingeleitet werden müssen: „Sperren Sie die Galerie, kein Besucher verlässt den Raum, bis wir alle Daten aufgenommen haben, und rufen Sie die Spurensicherung!“, sagt Ohnesorg zu den beiden Uniformierten, die ihn begleitet haben.
„Wo ist der Eigentümer dieser Galerie“, wendet sich der Kommissar nach Durchführung aller Sofortmaßnahmen an den nächststehenden Besucher dieser absonderlichen Vernissage.
„Der Königshofer“, erwidert dieser, ohne damit die Frage zu beantworten.
„Ja, der Königshofer! Wo ist der Königshofer?“
Wie auf Kommando entfesselt diese Frage das Gemurmel der Menge, die seit Eintreffen des Kommissars stumm den Ereignissen gefolgt war: „Hat wer den Hugo gesehen? Und die Larissa. Wo ist Larissa? Der Hugo ist weg. Hat wer den Königshofer …? Wann? Wo? Nein, warum? Er war ja gerade noch! Na, aber das ist doch! Larissa! Hugo!“
Aus dem Stimmenwirrwarr kristallisiert sich für den Kommissar eine klare Aussage heraus: „Sie sind weg. Spurlos verschwunden!“
5.2.2016 - Ab sofort ist der Kunstkrimi als Taschenbuch erhältlich. In jeder Buchhandlung und im Kunstraum der Ringsrassen Galerien, 1010 Wien, Kärntnerring 9-13, um 9,99 Euro.
Titel: Das Testament des Damien First
Autor: Thurnhofer, Hubert
ISBN: 9783739222400
E-Book ISBN: 9783741231407 - E-Book Aktion: Bis Ende März 2016 um nur 4,99 Euro! Siehe amazon.de u.a.