In seinen neuen Buch "Europa. Ein Nachruf" zeichnet Historiker Hannes Hofbauer ein kritisches Bild von der Entstehungsgeschichte Europas und den Konstruktionsfehlern der Europäischen Union. "Spätestens der europaweite Umgang mit dem auf Sars-CoV-2 getauften Virus im Jahr 2020 hat gezeigt, dass der Unionsgedanke in der Krise zerschellt. Allen EU-Staaten gemeinsam war der Rückzug aufs Nationalstaatliche", so Hofbauer. "Mit Ausnahme von Schweden brachte dies zugleich autoritär agierende Regime hervor, wie sie zuvor nicht für möglich gehalten wurden. Die Aufhebung der Gewaltenteilung zwischen Legislative und Exekutive, wie sie für die Brüsseler Union konstitutiv ist, zog nun auch in den einzelnen Mitgliedstaaten ein."
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Hofbauer beginnt seine Ausführungen chronologisch mit der Christianisierung als Vorgeschichte Europas und den Kreuzzügen - das erste gesamteuropäische Projekt. Die Vorgeschichte endet im "tausendjährigen Europa". Der Autor zitiert Quellen aus dem Reichsaußenministerium von 1939, in denen der Krieg als Kampf "um die Einheit und Freiheit Europas" bezeichnet wurde.
Nach dem Krieg konnten die "Väter des europäischen Gedankens", unter ihnen Walter Hallstein, "ihre Nazi-Karrieren beim Aufbau Europas - sprich: Westeuropas - nutzbringend verwenden". Hallstein wurde 1958 zum ersten Präsidenten der EWG-Kommission ernannt. Er war der Schöpfer der nach ihm benannten Doktrin, wonach die Bundesrepublik Deutschland den deutschen Alleinvertretungsanspruch stellte, was zum Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Kuba und Jugoslawien führte. "Die Doktrin entlarvt ... was von dem Gerede über eine 'europäische Einigung' tatsächlich zu halten war, nämlich der unbändige Wunsch westdeutscher Eliten, im Fahrwasser der USA, die ihrerseits seit 1947 im antikommunistischen McCarthy-Fieber lagen, ihre wirtschaftlichen Interessen durchsetzen zu können", kommentiert Hofbauer.
Der dominante Einfluss der USA auf die Konstruktion und politische Ausformung der EU, beginnend mit der Montanunion, ist der Leitfaden des Buches: "Politisch zur Sache ging es am 28. April 1949 mit der Unterzeichnung des Ruhrstatuts. Dieser von Washington angeleierte Vertrag, der neben den USA von Großbritannien, Frankreich und den Beneluxstaaten ratifiziert wurde, legte die Kontrolle über das Herzstück der westdeutschen Großindustrie, das nordrhein-westfälische Kohle- und Stahlrevier, in die Hände einer 'Internationalen Ruhrbehörde'."
So wie der Montanunion mangelte es in Folge auch der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) an demokratischer Legitimität: "Eine offizielle EU-Broschüre erklärt in dankenswerter Offenheit ... die jeder parlamentarischen Demokratie Hohn sprechende Funktionsweise: 'Der Rat arbeitet die Normen aus, die Kommission bringt Vorschläge ein und das Parlament hat beratende Funktion'."
Am 9. Dezember 1991 hat die Zwölfergemeinschaft den "Vertrag über die Europäische Union", der als Maastricht-Vertrag in die Geschichte eingegangen ist, beschlossen. "Die damals entstandene Struktur der 'Europäischen Union' ist für Außenstehende - und das sind alle, die nicht im Dunstkreis Brüssels ihre Brötchen verdienen - nur schwer zu durchschauen. Die sogenannte Dreisäulen-Konstruktion aus 'Europäischer Gemeinschaft' (EG), 'Gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik' (GASP) und der 'Zusammenarbeit Justiz und Innenpolitik' (ZJIP) ergibt als Dach die EU. Ihre Organe heißen nun 'Rat der Europäischen Union', 'Europäische Kommission', 'Europäisches Parlament' und 'Europäischer Gerichtshof'. Der Rat setzt sich aus den nationalen Regierungschefs bzw. -mitgliedern zusammen, die Kommission wird vom Rat vorgeschlagen und vom Parlament im sogenannten 'Mitentscheidungsverfahren' abgenickt, das Parlament wird unionsweit gewählt und bleibt machtlos und der Gerichtshof avanciert zum bestimmenden Faktor."
Abgesehen von dieser Konstruktion, die in ihrer Substanz nicht demokratisch ist, ja sogar als antidemokratisch bezeichnet werden muss, kritisiert der Autor, dass die sozialpolitischen Interessen stiefmütterlich behandelt werden und das Ideal der Friedensunion in Vergessenheit geraten ist, während der Schutz der Kapital-Interessen dominiert: "Die Maastricht-Kriterien ... machten aus einem gemeinsamen Wirtschaftsraum ohne Zollgrenzen eine einheitliche Wirtschafts- und Währungsunion mit Zentralbank und Wechselkursfixierung. Der heftigste und bis heute einschneidende suprastaatliche Eingriff besteht in den vier Konvergenzkriterien, die als Voraussetzung für eine gemeinsame Währung implementiert wurden. Staatsverschuldung, Inflationsziel, Wechselkursstabilität und Zinspolitik liegen seit Maastricht nicht mehr in nationalstaatlichen Händen; sprich: gewählten Parlamenten und von diesen wiederum gewählten Regierungen wurde der Einfluss darauf entzogen."
Es ist nicht Aufgabe eines Buches, das die Geschichte der Europäischen Union schreibt, ihre substanziellen Schwächen analysiert und die Macher und ihre Lobbyisten kritisiert, auch gleich eine genaue Karte mit Auswegen zu zeichnen. Doch der Autor macht zumindest Andeutungen, wie man "Europa ohne EU denken" sollte: "Solche Gedanken dürfen von Anfang an nicht mehr in der Dimension globaler Konkurrenzfähigkeit verhaftet bleiben, sondern müssen umgekehrt ein Konzept ökonomischer Subsidiarität entwickeln, ... Zukünftige, neu-europäisch gedachte Rationalisierungen müssen sozialer, regionaler und ökologischer Nützlichkeit Vorrang vor Profitmaximierung und Konkurrenzfähigkeit einräumen."
Bild: Hannes Hofbauer bei einer Demo in Wien am 28.4.2021
Hannes Hofbauer: "Europa. Ein Nachruf"
Promedia Druck- und Verlagsgesellschaft m.b.H., Wien, 2020.