29.10.2015 - Was Martin Winterkorn angeblich nicht wusste aber wissen musste. Was Ferdinand Piech getan haben könnte. Und was VW von der Krise lernen sollte.
600.000 VW-Mitarbeiter an 120 Standorten. Da kann schon mal ein Fehler passieren. Das wäre die einfachste Erklärung für den aktuellen VW-Skandal. Doch mit einem „Defeat Device“ die wahren Abgaswerte zu verschleiern, das konnte nicht von einzelnen Technikern veranlasst werden, weil ihre Zielvorgaben anders nicht zu erfüllen gewesen wären. Nein, das muss von langer Hand vorbereitet, geplant und umgesetzt werden. Da sind nicht nur ein paar Techniker involviert, da sind quer durch alle Abteilungen hunderte Mitarbeiter beteiligt, die ein Lügensystem aufgebaut und am Leben erhalten haben. Nicht zuletzt die Marketingabteilung, die Begriffe wie „Clean Diesel“ erfindet.
Die Überschreitung von Grenzwerten um das 40-Fache erfordert ein System. Dass Martin Winterkorn, der selbst Techniker ist und dem Vernehmen nach immer gut und oft bis in Details informiert war, beim Abschied seine Hände in Unschuld wäscht, ist eine kleinkarierte Schutzbehauptung zur Wahrung von Abfindungs- und Pensionsansprüchen. So ist dem bestbezahlten Konzern-Chef eines DAX-Unternehmens zu seinem Rücktritt keine bessere Entschuldigung eingefallen als „Ich tue dies im Interesse des Unternehmens, obwohl ich mir keines Fehlverhaltens bewusst bin.“
Angeblich beziehen Manager ihre Spitzen-Gagen dafür, dass sie das Ruder fest in der Hand halten und die richtigen Entscheidungen treffen. Wenn also ganze Abteilungen am Management vorbei agieren, dann ist Unwissenheit kein Entschuldigungsgrund sondern ein Entlassungsgrund.
„Noch ist völlig unklar, wer von den Manipulationen wusste“, schreibt der SPIEGEL einen Tag nach dem Rücktritt des Vorstandsvorsitzenden und übersieht, dass diese Frage völlig irrelevant ist. Die zentrale Frage lautet: wer hätte von den Manipulationen wissen müssen? Das ist die entscheidende Frage der Verantwortung im Management, für die es kein Wenn und Aber gibt. Entweder hat Winterkorn wirklich nicht gewusst, wie bei den Abgasmessungen getrickst wird, dann muss er wegen Inkompetenz gehen. Oder er hat alles gewusst und zugelassen, dann ist er selbstverständlich als Mittäter zur Verantwortung zu ziehen.
Der deutsche Autor Gerhard Wisnewski veröffentlicht seit 2008 im Knaur Verlag „Das andere Jahrbuch“ und landet damit regelmäßig auf der Spiegel-Bestseller-Liste. Darin bürstet er viele weltbewegende Ereignisse gegen den Strich, sucht aber zum Teil bei recht obskuren Verschwörungstheorien Zuflucht. Und so könnte Wisnewski den VW-Skandal interpretiert haben:
Vorsicht Satire!
Unmittelbar nach dem Schlussakkord des Il trovatore ließ sich Ferdinand Piech vom Großen Festspielhaus zum Salzburger Flughafen chauffieren. Dort stand bereits seine neue Falcon 7X startbereit, um nach New York abzuheben. Auf den unermüdlichen Drahtzieher wartete am folgenden Morgen ein Routinetermin bei Goldman Sachs und und danach ein Mittagessen mit Gina McCarthy. Dass dieses ungewöhnliche Essen keinen privaten Charakter hatte, wurde exakt einen Monat später mit einem Knalleffekt klar. McCarthy ist die Leiterin der Environmental Protection Agency (EPA), die am 18. September den VW-Skandal ins Rollen gebracht hat.
Piech gegen Winterkorn war ein Match, das der Vorstandschef gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden gewonnen hatte. Ein Pyrrhussieg. Dass er im April gegen Winterkorn verloren hatte, konnte Piech nicht auf sich ruhen lassen. Der Kopf des allzu mächtig gewordenen VW-Chefs musste rollen, deshalb lenkte Piech die Aufmerksamkeit von McCarthy ganz nebenbei auf ein Papier, das der International Council on Clean Transportation (ICCT) bereits vor einem Jahr veröffentlicht hatte. Die Untersuchung sollte zeigen, dass Dieselmotoren in den USA höheren Anforderungen entsprechen als in Europa, tatsächlich haben die Studien-Autoren jedoch aufgedeckt, dass die „Clean Diesel“-Motoren von VW deutlich von den Abgasnormen abweichen.
Kein Mensch, der Piech näher kennt, wird bezweifeln, dass dieser Mann aus Rache bereit ist, über Leichen zu gehen – und seien es Kleinaktionäre des VW-Konzerns. 37 Tage nach Piechs Rückkehr aus den USA musste Winterkorn seinen Hut nehmen. Und mit seinem Sturz ging auch der Kurs der VW-Aktie, die seit dem VW-Machtkampf im April schon starke Abwertstendenzen zeigte, über in den freien Fall.
Vor dem April-Konflikt stieg die VW-Aktie steil nach oben, von 170 zu Jahresbeginn auf 250 Euro Mitte März. Eigentlich ein Grund zum Jubeln für alle Aktionäre. Doch Piech kümmert sich nicht um einfache Aktionäre, die so blöd sind „Vorzugsaktien“ zu kaufen, die den besonderen Vorzug haben, dass sie ohne Stimmrechte sind. Nur Inhaber von Stammaktien haben ein Mitspracherecht bei der Hauptversammlung. Nach der Auseinandersetzung im April, die der damalige Aufsichtsratsvorsitzende Piech gezielt über die Medien geführt hat, fiel der VW-Kurs sukzessive bis auf 150 Euro Anfang September. Piech hat damit eindeutig gegen das Aktienrecht verstoßen, denn Konflikte dieser Art sind in Aufsichtsratssitzungen zu bereinigen. Doch Piech wurde von keinem Gericht dieser Welt belangt. Ganz im Gegenteil. Zum Schein zog er sich aus den VW-Gremien zurück um hinter den Kulissen sein für die VW-Aktionäre folgenschweres Spiel weiter zu treiben.
Nach Auffliegen des Abgas-Skandals ging es Schlag auf Schlag. Der VW-Kurs rasselte innerhalb von zwei Wochen in den Keller: von 168 auf 104 Euro pro Aktie. Bis in der ersten Oktoberhälfte die Trendwende folgte. Die angeblich seriöse WELT bringt am 9. Oktober die Schlagzeile „Die rätselhafte Kursexplosion der VW-Aktie“. Übertroffen wird dieser naive Titel nur von der naiven Berichterstattung: „ Aus heiterem Himmel schoss der Kurs der Stammaktien plötzlich um 15 Prozent nach oben, dagegen legten die Vorzugsaktien von VW lediglich um vier Prozent zu.“
Aus heiterem Himmel? Diese Aussage stimmt nur insofern, als Piech auf seinem Rückflug aus New York bei Schönwetter in Salzburg gelandet ist. Um ein Dokument leichter, das er seiner neuen besten Freundin in der US-Umweltschutzbehörde überlassen hatte, und einen Treuhandvertrag mit Goldman Sachs reicher, der ihm ohne Anmeldung bei der Börsenaufsicht den massiven Zukauf von VW-Stammaktien bei einem Einstiegspreis von knapp über 100 Euro ermöglichte.
Ende der frei erfundenen Satire.
Moralisches Resümee: Österreich ist eine Dieselnation! Fast 2,7 Millionen Diesel-Pkws sind hierzulande zugelassen, das ist ein Anteil von rund 57 Prozent. Im Jahr 2000 lag der Anteil noch bei 37 Prozent. Auch in Deutschland hat sich der Anteil der Diesel-Pkw in den vergangenen fünfzehn Jahren stark erhöht, liegt jedoch bei 31 Prozent deutlich hinter Österreich. Auch wenn Dieselmotoren weniger als Benziner verbrauchen, so sind doch Stickstoffbelastung und der Ausstoß von Feinstaub höher. Dieser Nachteil führt zu ökologischen Belastungen (sauerer Regen) und zu Gesundheitsschäden (Asthma), insbesondere in Großstädten.
Der Abgas-Skandal von VW könnte zu einem Umdenken führen. Umweltverbände verlangen schon lange strengere Grenzwerte für Dieselfahrzeuge. Immer mehr deutsche Städte verschärfen die Regeln für „grüne Pickerl“. Und sogar Paris will ab 2020 Dieselfahrzeuge aus der Stadt verbannen. Wenn VW aus dem Abgas-Skandal lernt, dann muss der neue Vorstandschef Matthias Müller die Hebel umlegen und das Dieselangebot radikal reduzieren. Danach geht es freilich darum, mit Alternativen ein neues Image aufzubauen. Der VW-Betriebsratschef Bernd Osterloh hatte dazu neulich eine Vision: "Wenn schon Phaeton, dann als Elektro-Fahrzeug mit 800 Volt, 15 Minuten Ladezeit und mit 500 Kilometer Reichweite."
Ergänzung 12.5.2016: VW-Vorstände: Eine Herde von Unschuldslämmern, erschienen auf fischundfleisch.at
Ergänzung 16.1.2017: Verantwortung mit V wie VauWeh, erschienen auf fischundfleisch.at
Ergänzung 15.4.2019: Ex-Vorstand Martin Winterkorn wird - nach Klagen in den USA - nun auch in Deutschland angeklagt. Dreieinhalb Jahre hat es gedauert, bis die Staatsanwalt Beweismaterial für die Schuld von Winterkorn gefunden hat. Hätte die Staatsanwalt nach Verantwortung gesucht, hätte sie nur das Aktiengesetz lesen müssen.
Ergänzung 31.8.2019: Am Sonntag, 25.8.2019 ist Ferdinand Piech im Alter von 82 Jahren verstorben. Ein Anlass nicht nur für noble Nachrufe, sondern auch über Spekulationen über seine Rolle im Dieselskandal. So berichtet das HANDELSBLATT am 27.8.2019: "In seiner Befragung vor etwa drei Jahren berichtete Piëch als Zeuge von einem Treffen mit dem früheren israelischen Botschafter Avi Primor und Sicherheitsberatern im Februar des Jahres 2015, in dem diese ihm von den Ermittlungen der US-Umweltbehörden gegen Volkswagen berichtet hätten. […] Das gesetzeswidrige Treiben der VW-Entwickler hatte die US-Behörden zu dieser Zeit zwar schon anderthalb Jahre beschäftigt, publik machten sie den Fall aber erst im September 2015. Piëch hatte also nach eigenen Angaben schon lange vor dieser Mitteilung von dem Skandal erfahren, der später als „Dieselgate“ in die Geschichte des Volkswagen-Konzerns eingehen wird. Bereits im März 2015 am Rande des Automobilsalons in Genf will der damalige Aufsichtsratsvorsitzende Piëch mit VW-Chef Martin Winterkorn über die Diesel-Manipulationen gesprochen haben. Winterkorn habe abwiegelnd reagiert, erklärte Piëch ein gutes Jahr später den Staatsanwälten. Piëchs Zögling Winterkorn habe keinen Grund gesehen, dem möglichen Verdacht mit größerem Elan nachzugehen."