31.1.2009 - Nach dem Finanz-Crash 2008 stellt sich die Frage, ob der Kapitalismus noch eine Zukunft hat. Warum hat die Marktwirtschaft versagt? Kann Staatswirtschaft die Privatwirtschaft retten? Oder brauchen wir lediglich eine „Perestrojka“ des Kapitalismus?
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MORAL 4.0 - Ein Beitrag zur Neu-Orientierung Europas.
Vom Autor der Rubrik WIRTSCHAFTSETHIK in der Unternehmerzeitschrift a3eco
Seit dem Finanz-Crash im Herbst des Vorjahres haben weltweit alle Staaten unfassbare Summen – kein Mensch kann diese Beträge noch vernunftmäßig nachvollziehen, man kann nur noch von X Milliarden reden - zur Sanierung der Finanzwirtschaft aufgebracht. Trotzdem gibt es Kommentare namhafter Wirtschaftsexperten, dass an der Krise letztlich die Politik Schuld sei! So behauptet der bekannte Manager Klaus Woltron: „Schuld sind die, die sich jetzt am meisten aufregen: Die Regierungen, die jetzt gescheit tun, aber verabsäumt haben entsprechende Regulative aufzustellen.“
In Wahrheit haben gerade Experten wie Woltron und Heerscharen von Lobbyisten dazu beigetragen, dass das Ideal vom freien Markt zur Grundlage vieler politischer Entscheidungen wurde. Das Ideal vom freien Markt mutierte allerdings unbemerkt zu einer Ideologie. Diese Ideologie geht davon aus, dass sich der Markt selbst reguliert. Wie tief diese Ideologie sitzt, beweist eine Aussage von Ex-Kanzler Wolfgang Schüssel: „Während der Markt durch Wettbewerb Fehler ständig korrigiert, konserviert der Staat oft Fehler des Systems so lange, bis er die Notbremse ziehen muss.“ Dieses Dogma, wonach der Markt über den Gesetzen der Staaten und Staatengemeinschaft steht, weil er sich angeblich durch den Wettbewerb „selbst reguliert“, ist verantwortlich für die aktuelle Entwicklung. Die unzureichende Regulierung der Märkte war Ergebnis dieser Ideologie, nicht die Unfähigkeit der Politik an sich, Regeln zu erstellen und Gesetze zu erlassen.
Gemäß dieser Ideologie wird dem Markt mehr Macht anvertraut, als den politischen Systemen und Insitutionen. Mit dieser Ideologie hat sich die Politik gegenüber der Wirtschaft selbst entmachtet. Demnach ist der Markt autonom (selbstgesetzgebend), weil durch den Wettbewerb immer das Gleichgewicht der Kräfte, das Gleichgewicht zwischen Angebot und Nachfrage hergestellt werde. Daraus hat man u.a. den absurden Schluss gezogen, dass die Preise an den Börsen immer ein realistisches Abbild der Realwirtschaft seien, obwohl kein Markt irrationaler ist als die Weltbörsen. Der Ausschlag der VW-Aktie vor Weihnachten hat diese systemimmanente Irrationalität bestens illustriert. Der Industrielle Adolf Merckle hat sich nach Fehlspekulationen mit der VW-Aktie das Leben gekommen.
Tatsächlich hat das Modell der freien Marktwirtschaft lange funktioniert, und die soziale Marktwirtschaft war kein Ettikettenschwindel, hinter dem sich brutale Kapitalisten versteckt haben, sondern ein ehrliches Anliegen vieler Unternehmer, ihren Wohlstand mit ihren Mitarbeitern zu teilen.
Teilen, verteilen, umverteilen
Diese christlichen Werte sind aber aus der Marktwirtschaft in den vergangenen zehn bis fünfzehn Jahren immer mehr verdrängt worden. An ihre Stelle ist die Gewinnmaximierung getreten, getrieben von immer stärker werdenden Kapitalinteressen. So konnte der Kapitalismus unter dem Deckmantel der freien Marktwirtschaft um sich greifen. Worin unterscheidet sich Marktwirtschaft vom Kapitalismus?
Marktwirtschaft sieht den Wettbewerb als treibende Kraft. Das ist grundsätzlich kein Fehler, wenn man es sportlich betrachtet. Zu einem Problem wird der Wettbewerb, wenn sich dahinter Egoismus und Gier verstecken und immer stärker werden. Wenn man das Leben aber als Prozess ständiger Veränderungen sieht, so ist der Markt in diesem Prozess lediglich die Basis für dynamische Veränderungen – nicht mehr und nicht weniger. Zu regeln ist der Markt – so wie jede gesellschaftliche Ordnung, ob Gesundheitssystem, Sicherheit, Bildung – von der Politik.
Kapitalismus ist dagegen nichts anderes als die kapital-getriebene Wirtschaftsform. Längst nicht jeder Unternehmer ist Kapitalist. Das exotische Tier Epu (Ein Personen Unternehmen) dominiert mittlerweile die Wirtschaftswelt. So sind in Österreich rund 186.000 von insgesamt 378.000 Unternehmen EPUs, in der Consultingbranche dominieren EPUs sogar mit 61 Prozent. Still und leise hat der Kapitalsmus die Marktwirtschaft in den vergangenen zehn Jahren abgelöst, denn der Kapitalismus hat sich bis zuletzt als Marktwirtschaft getarnt. Das war auch deshalb möglich, weil der Westen gerne den brutalen osteuropäischen „Raubtierkapitalismus“ als einzartigen Auswuchs kritisiert hat und das Wort „Kapitalismus“ sogar für Topkapitalisten ein Schimpfwort war. De facto hat der Kapitalismus in Reinkultur aber auch im Westen wieder die Herrschaft übernommen. Wobei Kapitalismus den Westen nicht durch die hemmungslose Aneignung des Mehrwerts der Produktionsmittel erobert hat, sondern durch das Kapital an sich. Noch nie war die Wirtschaft in einem derartigen Ausmaß vom Kapital getrieben wie bis zum Finanz-Crash 2008. Geldgeschäfte machten vor dem Crash 85 Prozent aller Wirtschaftstransaktionen aus.
Es ist etwas zu kurz gegriffen, wenn man glaubt, die Gier unersättlicher Finanzmanager sei der einzige Grund für den Finanz-Crash, wie Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina meint. Die Gier hat auch eine ökonomische Triebfeder, die nach wie vor nicht in Frage steht: die Gewinnmaximierung. Bis zu welcher Höhe der Gewinn maximiert werden muss, das schütteln Manager nicht aus dem Ärmel, sondern das wird von Benchmarks vorgegeben. Die Manager kümmern sich schon lange nicht mehr um die nachhaltige Entwicklung ihrer Unternehmen. Das müsste nämlich gesellschaftliche Interessen (die Interessen der Mitarbeiter, der Lieferanten, der Großkunden und der Endkunden) berücksichtigen. Statt dessen jagen sie dem Ziel hinterher, die Benchmark zu erreichen. Dabei ist die Benchmark aber nichts anderes als ein abstrakter Durchschnittswert (z.B. die durchschnittliche Rentabilität von Unternehmen einer Branche), der in keiner Weise die besonderen Bedingungen des einzelnen Unternehmens berücksichtigt.
Die Benchmark hat die Stellung eines absoluten Wertes erlangt, seit das Kapital in den Märkten insgesamt und in den einzelnen Unternehmen in der Position des CFO (Chief Financial Officer) zum dominanten Marktfaktor geworden ist. Scheinbar objektive Mess-Werte wurden so zum Ersatz grundlegender, ethischer Werte und eigenständig definierter Unternehmensziele der Manager. Rating-Agenturen, die scheinbar objektiv Marktdaten erheben und so Benchmarks für alle Branchen berechnen, haben so enormen Einfluss auf die Wirtschaft gewonnen. Dass hinter den Rating-Agenturen aber die Interessen der Finanzindustrie stehen, haben die Manager, die sich an den Vorgaben der Rating-Agenturen orientiert haben, übersehen.
Warum dominieren die Kapitalinteressen die Märkte heute wesentlich stärker als vor dem Ende des Kommunismus? Die eine Antwort lautet, weil Manager keine Wunderwuzzis sind, die jeden Tag neue Ideen und Zukunftsperspektiven entwickeln, sondern weil sie wie pubertierende Kids immer den neuesten Modetrends folgen. Denn es ist nichts anderes als ein Modetrend, die Erreichung von Benchmarks als Unternehmensziel zu definieren. Hinter den Rating-Agenturen stehen in der Regel die Interessen der Banken und Kapitalanleger. Die andere Antwort ist fast banal: weil immer mehr Kapital in den Markt fließt, weil so viel Kapital in der Weltwirtschaft bewegt wird wie nie zuvor, deshalb sind heute die Kapitalinteressen im Markt stärker als vor 20 Jahren. Mit den aktuellen „Hilfspaketen“ der Regierungen wird diese Spirale noch einmal beschleunigt.
Was kommt nach dem Crash?
Dass der Markt Regulierung braucht, darüber sind sich mittlerweile alle einig. Überraschend ist lediglich, dass die Regierungen X Milliarden zur Rettung der Wirtschaft aufgebracht haben, ohne jegliche Auflagen zu machen. Ohne jegliche Regluierung! So ist nach den Hilfspaketen für die Banken, die dazu da waren den Geldkreislauf wieder in Fluss zu bringen, absolut nichts passiert. Die Banken haben das Geld gehortet statt es in die Wirtschaft zu pumpen und den Politikern ist nichts besseres eingefallen als zu klagen, „man kann die Banken nicht zwingen, Kredite zu vergeben.“ So klopfte als nächstes die Auto-Industrie bei den Regierungen um Hilfe an. Allen voran die US-Autobosse bei der US-Regierung. Auch hier stellt sich offenbar nur die Frage, wie kann man den Stillstand mit Milliardenspritzen verhindern, anstatt die Frag zu stellen: welche Innovationen und Zukunftsprojekte sollen mit den Staatsmitteln finanziert werden?
So stürzen sich die Regierungen aller Länder gerade mit Anlauf ins Messer des Kapitalismus. Die ohnehin schon riesigen Staatsverschuldungen werden mit den aktuellen Maßnahmen zu einem Fass ohne Boden. Die Regierungen nehmen aufgrund der Rezession weniger Steuern ein und müssen für ihre Konjukturprogramme zusätzlich Schulden aufnehmen. Woher nehmen wenn nicht stehlen? Dabei geht es gar nicht um Diebstahl an der nächsten Generation, die dann unsere Schulden zahlen muss, sondern um Diebstahl unserer Ersparnisse, denn die werden bald nichts mehr wert sein. Um nämlich dem Gespenst der Deflation (alles wird billiger, deshalb kauft keiner mehr, weil alle zuwarten und noch günstiger kaufen wollen) nimmt man in Kauf, dass die jetzigen Maßnahmen in eine Hyper-Inflation münden.
Warum Hyperinflation? Die Regierungen haben grundsätzlich drei Geldquellen: Steuern, Banken und Staatsanleihen. Höhere Steuern sind politisch nicht durchsetzbar. Die Banken sind mit sich selbst beschäftigt und könnten bestenfalls das Geld verleihen, das sie zuvor von ihren Regierungen bekommen haben. Bleiben also Staatsanleihen, die aber relativ hoch verzinst werden müssen, damit sie gekauft werden. Zusätzlich sollte die Behaltefrist relativ kurz sein, um ihre Attraktivität zu erhöhen. So bleibt dem Staat nichts anderes überig, als immer neue Anleihen aufzulegen, um die alten zu begleichen. Das nennt man Pyramidenspiel. Zuletzt hat so ein Pyramidenspiel Russland 1998 in die Finanzkrise getrieben. Heute basteln alle Regierungen dieser Welt ihre Pyramidenspiele, die weltweiten Auswirkungen werden daher nicht allzu lange auf sich warten lassen.
Zwar wird man so den Kapitalismus nicht direkt retten. Aber am Ende wird der unkontrolierte, ungezügelte Kapitalismus wohl wieder das Ruder übernehmen – mangels geeigneter Alternativen. Und weil dann ja die Politik einmal mehr bewiesen haben wird, dass sie unfähig ist, Wirtschaftskrisen zu bewältigen. So bleibt es wohl eine fromme Hoffnung, dass der Kapitalismus nach dem Crash eine Perestrjoka durchlaufen wird, wie dies Autor Klaus Woltron in seinem Buch „Perestrojka des Kapitalismus“ darlegt. Der Kapitalismus ist nämlich nicht reformierbar, sowenig wie der real existierende Kommunismus reformierbar war.
In Zukunft – wenn es eine Zukunft gibt - muss es um mehr gehen. „Es geht nicht darum, den Kapitalismus zu zivilisieren, das geht gar nicht. Es geht darum, den Übergang vom Kapitalismus zur Zivilisation zu organisieren. Wir haben das Problem des Mangels gelöst, es gibt genug für alle. Es wird aber nicht verteilt. Darin hat der Kapitalismus versagt. Nun, wo es keine materielle Not mehr geben müsste, kann die Welt zur Zivilisation übergehen“, zeigt sich der kritische Soziologe Jean Ziegler trozt aller Skepsis optimistisch.
ZITATE
„Die US-Regierung hat im Herbst einen 700 Mrd. Dollar (555 Mio. Euro) schweren Rettungsfonds für den Finanzsektor bereitgestellt. Die enorme Liquiditätsspritze sollte vor allem dazu dienen, dass die Institute auch wieder Kredite vergeben. Doch über die Verwendung der bereits ausbezahlten Summen hüllen sich die US-Banken in Schweigen. Die meisten wollten keine Auskunft geben, andere konnten es nicht. Und bisher hatte auch die US-Regierung keine Möglichkeit, dem Verbleib der Steuergelder nachzuprüfen.“ (orf.at)
„Larry Flynt, der Herausgeber des "Hustler"-Magazins, und sein Kollege Joe Francis vom Pornoimperium Girls Gone Wild wollen den US-Kongress um eine Finanzspritze von fünf Milliarden Dollar für die Branche bitten. Das staatliche Rettungspaket solle "den sexuellen Appetit Amerikas wieder auffrischen", sagte Flynt.“ (orf.at)
„Die von der Gier nach immer höheren Renditen, Aktienkurse, Immobilienpreisen, Provisionen und Vorstandsremunerationen befeuerte Expansion der Finanzgeschäfte, unterstützt von hoch gelobten und innovativen Instrument, haben die schwerste Krise nach dem zweiten Weltkrieg ausgelöst.“
Ex-Finanzminister Ferdinand Lacina (Format, 40/2008)
„Es geht darum, dass in einem an sich funktionierenden ökonomischen System Dinge aus dem Ruder gelaufen sind, entgegen jeder Vernunft, weil die Regeln fehlen. Wenn wir die Auswüchse der Hedgefonds, der bestochenen Ratingagenturen, der computergstützten Spekulationsmaschinerie auf vernünftige geregelte Systeme zurückführen, wird der Neoliberalismus der Menschheit ökonomisch nützen – noch lange.“
Klaus Woltron (Der Standard 10./11. Jänner 2009)
„Man ist mit dem Vertrauen in die unregulierte Marktwirtschaft sicher zu weit gegangen – nicht mit der Deregulierung sondern mit der Nichtregulierung.“
Karl Aiginger, Leiter des Wiener Wirtschaftsforschungsinstituts, (Der Standard 3./4. Jänner 2009)
„Es gibt drei Stadien der Krise. Erstens den Krach: das materielle Auseinanderbrechen des Raubtierkapitalismus. Zweitens die Angstreaktion der Regierungen: das Trauma des Schwarzen Freitags mit seinen Konsequenzen wie Faschismus sitzt im Unterbewusstsein. Das führte zur Freigabe von Milliardensubventionen für die Banken ohne irgendeine Auflage. Jetzt kommt die dritte Phase: der Kampf um die Neuordnung der Weltwirtschaft.“
Jean Ziegler (Format, 1-2/2009)
Die Bunte Zeitung 1/2009 (Februar/März), Illustration: Ernst Zdrahal
Ergänzung November 2017: Ein gelungenes Projekt der Gemeinwohlwirtschaft in Andalusien. "In Marinaleda ist alles in Genossenschaften organisiert, die zusammenarbeiten und den Menschen einen sicheren Arbeitsplatz verschaffen. Die Geschichte der Genossenschaften ist eine Geschichte des Widerstands, eine Geschichte, die in der heutigen Zeit Mut und Hoffnung spenden kann" berichtet MutterNatur.net