7.6.2020 - Der „Scheibenwischer-Eklat“ ist meine Lieblingserinnerung an den letzten Präsidentschaftswahlkampf 2016.
Unser Bundespräsident Alexander Van der Bellen hat in der Nacht von Samstag auf Sonntag, den 24. Mai 2020, beim Wirten die Sperrstunde übersehen und ist um halb eins in der früh von der Polizei aufgegriffen worden. Wie die APA berichtet drohen nun bis zu 30.000 Euro Strafe – nicht für Van der Bellen, sondern für den Wirten, der den Präsidenten und seine Freunde nicht rechtzeitig raus geschmissen hat. Ein willkommener Anlass für alle Oppositionellen, sich auf den Präsidenten einzuschießen. Doch alle, die nun auf VDB zielen, schießen am Ziel vorbei.
Es ist ok, wenn man Schanigärten um 22.00 Uhr schließt, damit die Nachbarschaft in Ruhe schlafen kann. Doch so zu tun, als wäre die Corona-Ansteckungsgefahr nach 23.00 Uhr größer als vor 23.00 Uhr ist gesundheitspolitischer Schwachsinn. Schlimmer jedoch ist der gesellschaftspolitische Wahnsinn, den Wirten haftbar zu machen für seine Gäste! Solche Einfälle - nein; Ausfälle! - kannte ich bislang nur aus Staaten, die ihre Bevölkerung mit Stasi-Methoden unter Kontrolle halten mussten. Und nur ein Stasi-Staat kann sich für Bagatelle-Vergehen maßlos hohe Strafen ausdenken.
Darüber kann ich mich aufregen, und nicht weil manche Menschen wieder gemütlich zusammen sitzen ohne dabei ständig auf die Uhr zu schauen.Kern des Skandals ist nicht VdB, obwohl verschärfend gilt, dass er das entsprechende Gesetz unterzeichnet hat. Kern des Problems ist die Gesetzgebung zur angeblichen Bekämpfung von Corona.
Die Kunst der Freiheit
Van der Bellen sei Dank gibt es Wichtigeres als die Diskussion über Sperrstunden. Und zwar die Diskussion über „Die Kunst der Freiheit“. Das nämlich ist der Titel des Buches, das Van der Bellen im 2015, also ein Jahr vor der Präsidentschaftswahl veröffentlicht hat.
Auf Seite 135 schreibt Van der Bellen – ein Jahr vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten: „Ein merkwürdiges Phänomen ist die Uniformierung von Meinungen, obwohl es eine lange Tradition der Pressefreiheit gibt. Das Muster: Wenn vier wichtige Journalisten einer Meinung sind, meinen in der Regel auch die anderen, dass es so ungefähr schon stimmen wird. Gegenargumente werden entweder nicht gehört, nicht mehr vorgebracht oder dämonisiert. Am Ende gibt es so etwas wie eine Einheitsmeinung, gegen die anzukämpfen es zusehends schwerer wird. Diese freiwillige Gleichschaltung der Medien betrifft Sachfragen ebenso wie schwierige, komplexe Konstellationen der Weltpolitik.“
Ich habe den Präsidenten gefragt: Wie beurteilen Sie diese Aussage in Hinblick auf die Gleichschaltung der Medien in Folge der Corona-Politik in Österreich und weltweit?
Und ich erhielt eine Antwort: Also sprach Van der Bellen: „In der ersten Phase des Lockdowns, unter dem Eindruck der Bilder aus der Lombardei, haben die meisten Medien die Maßnahmen der Regierung unterstützt – wie im übrigen auch die Opposition. Aber es gab auch kritische Stimmen. Nachdem absehbar war, dass Österreich in der Pandemie relativ glimpflich davongekommen war, setzte auch die öffentliche Diskussion, der normale demokratische Diskurs wieder ein, der sich auch in den Medien seither widerspiegelt.“
Auf den Seiten 136 bis 138 Van der Bellen – ein Jahr vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten: „ich bezweifle stark, ob die westlichen Demokratien das Ur-Meter der Demokratie- und Freiheitsentwicklung sein sollten. […] Vorgestanzte Demokratiemodelle kann man nicht eins zu eins in andere Weltregionen übertragen. Ebenso wie es verhältnismäßig liberale Autokratien gibt, gibt es illiberale Demokratien.“
Ich habe den Präsidenten gefragt: Welche der beiden Bezeichnungen „liberale Autokratie“ oder „il-liberale Demokratie“ trifft auf Österreich im Mai 2020 zu?
Und ich erhielt eine Antwort: Also sprach Van der Bellen: Österreich ist eine liberale Demokratie. Daran besteht kein Zweifel. Ich habe nicht die Sorge, dass wir in ein autoritäres System abgleiten. In der Situation einer Pandemie haben wir laufend abzuwägen, wie viel wir von einem Grundrecht hergeben, um ein anderes zu schützen. Wir haben laufend die Frage zu stellen, wie viel Freiheit wir bereit sind aufzugeben, um unsere Gesundheit zu schützen.
Auf Seite 154 schreibt Van der Bellen – ein Jahr vor seiner Wahl zum Bundespräsidenten: „Verschweigen, vernebeln oder gegen die eigene Überzeugung reden kann im politischen Kontext manchmal sogar vernünftig und strategisch zielführend sein.“
Ich habe den Präsidenten gefragt: Haben Sie diese Maxime seit 11. März dieses Jahres selbst angewendet? Und haben Sie die Anwendung dieser Maxime nach dem Shutdown dem Bundeskanzler oder anderen Regierungsmitgliedern empfohlen?
Und ich erhielt eine Antwort. Also sprach Van der Bellen: „Was Sie hier zitieren ist eine Analyse, keine Handlungsanleitung. Und ich denke, angesichts der gesundheitlichen Bedrohung durch die Pandemie, musste niemand gegen seine Überzeugung handeln. Dass vereinzelt Fehler in der Kommunikation passiert sind, ist in der Nachbetrachtung evident. Doch wir wissen heute viel mehr als in damaligen Situation des Handelns. Politik muss aufgrund oft unvollständigen Wissens, unvollständiger Informationen handeln. Sie MUSS handeln, denn auch ein Nicht-Handeln, ein bloßes Zuschauen, ist ein Handeln.“
Soweit der Autor Van der Bellen und die Antworten des Präsidenten. Im Vorwort seines Buches betont der Autor, es sei „nicht das Programm eines allfälligen Kandidaten für das Amt des Bundespräsidenten“ (S. 9) und sogar am Ende des Buches wollte er sich noch nicht festlegen: „Nun ist die Entscheidung, vor der ich beim Abschluss dieses Buches stehe, kein Heldenplatz-Drama. Aber wichtig genug ist sie: Soll ich für das Amt des österreichischen Bundespräsidenten kandidieren? Politische Freunde raten mir zu, private Freunde ab. Und ich muss Sie, verehrte Leserin, verehrter Leser, enttäuschen: Eine endgültige Entscheidung wird vermutlich auch beim Erscheinen dieses Buches noch nicht gefallen sein.“ (S. 161)
Ist es nicht sonderbar, dass Van der Bellen so lange gezögert hat? Ich muss gestehen, dass mich die Ausführungen des Autors mehr überzeugt haben, als die Antworten des Präsidenten. Denn die Aussagen des Autors waren kritisch, oft selbstironisch und manchmal sogar polarisierend, wie das letzte Zitat. Es hat übrigens einen Vorsatz: „Auch wenn ich mich damit nicht beliebt mache: Verschweigen, vernebeln oder gegen die eigene Überzeugung reden kann im politischen Kontext manchmal sogar vernünftig und strategisch zielführend sein.“
Dieser Vorsatz ist Vorsatz, also Bekenntnis, nicht Analyse. Dass Van der Bellen so lange getan hat, als ob er gar nicht wirklich ins Amt des Bundespräsidenten wolle, kann deshalb als Wählertäuschung gesehen werden. Zumindest als Täuschung der eigenen Parteimitglieder - denn einer Urabstimmung in seiner Partei hat er sich mit seinem Unabhängigkeits-Trick entzogen. Das ist Schade, denn er wär ja sonst ein netter Mensch, mit dem ich gerne einmal über „Die Kunst der Freiheit“ diskutieren würde. Insbesondere darüber, ob die Freiheitsrechte in unserer Verfassung ausreichend geschützt werden.
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Ansichten und Absichten
Vor zwanzig Jahren hat Christian Neuwirth das Buch „Alexander van der Bellen. Ansichten und Absichten“ geschrieben, das 2001 im Molden Verlag erschienen ist. Das letzte Kapitel ist den „Inlands-Ideen“ des damaligen Parteichefs der Grünen gewidmet. Natürlich geht es dabei um Ökosteuern. „Die Erhöhung der Abgaben auf Energie, meint der Wirtschaftsprofessor, sei ‚auf jeden Fall‘ ein geeignetes Steuerungselement“, schreibt Neuwirth und zitiert VdB wörtlich:
„Zumindest auf jene Energie, die auf fossilen Brennstoffen beruht. Daran führt kein Weg vorbei. Unser Vorschlag ist, das aufkommensneutral zu machen, indem man die höheren Energiekosten durch eine niedrigere Besteuerung der Arbeit kompensiert. [..] In der Politik spricht manches dafür, den Schritt rasch und hart zu machen. Das zeigt die Diskussion um das Null-Defizit. Ökonomisch gesehen spricht mehr dafür, den Prozeß in die Länge zu ziehen. Politisch gesehen macht es aber mehr Sinn, den Schrecken rasch zu verbreiten und dann auf das Vergessen zu setzen.“ (S. 233)
Eine Verteuerung des Straßenverkehrs sei daher unumgänglich. VdB fordert dem entsprechend: „Die Einführung einer Kilometerabgabe. Der gefahrene Kilometer wird verteuert und nicht der Benzinverbrauch als solcher. […] Wir haben uns entschlossen, eine strikt marktwirtschaftliche Regelung über den Preis zu machen. Nach vielem vielem internen Zähneknirschen und mit Zusatzregelungen für Pendler. Wenn es im 21. Jahrhundert nicht möglich sein sollte, einen fälschungssicheren Tachometer zu bauen, dann weiß ich wirklich nicht...“ (S. 234)
Warum einfach, wenn‘s kompliziert auch geht? Was wäre – außer zusätzlicher Beschäftigungstherapie für zusätzliche Bürokraten – ein Vorteil der Kilometerabgabe gegenüber teurerem Benzin? Wer mehr fährt braucht mehr Sprit und zahlt mehr Steuern. Aber da die Besteuerung von Sprit ohnehin schon hoch ist, braucht der ansonsten so nüchterne Wirtschaftsprofessor offenbar eine neue Etikette um seine Preiserhöhung durchzusetzen. Man nennt das Etikettenschwindel. Neuwirth vermutet: „Vielleicht ist man bei den Grünen zur Überzeugung gelangt, daß man sich derart erwiesenermaßen unpopuläre Forderungen besser sparen sollte.“ (S. 235)
VdB war zehn Jahre, bis 2008, Parteivorsitzender der Grünen. Ganz ohne Etikettenschwindel gab es danach ganz einfach keine Vorschläge mehr für ökologische Steuerreformen.
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Die Verfassung von VdB
Wenn man die beiden Bücher vergleicht, so kann man zu dem Ergebnis kommen, dass VdB seiner Haltung des abwägenden Sachpolitikers weitgehend treu geblieben ist. „Die Sache“ allerdings ist nicht eine Idee, für die er brennt, sondern die Aufrechterhaltung des Status quo, im Sinne seiner Aussage: „Das werden wir schon schaffen.“ So hat man von ihm seit Jahren nichts mehr von einer ökologischen Steuerreform gehört. Als Präsident könnte er so eine Reform nicht durchsetzen, aber er könnte sie jederzeit thematisieren und somit das mediale Feuer am Lodern halten. Beharrlich ist VdB u.a. in der Ablehnung einer Verfassungsreform.
Christian Neuwirth schreibt in „Ansichten und Absichten“: „Der Parteichef der Grünen will sich über die Funktion des Bundespräsidenten keine unnötigen Gedanken machen. Seine Zuständigkeiten sollen in etwa so bleiben, wie sie sich derzeit darstellen“ und zitiert VdB wörtlich „Ich sehe keinen unmittelbaren Reformbedarf. Wenn sich die Mehrheit der Parteien im Parlament auf etwas einigt, dann kann sich der Bundespräsident auf den Kopf stellen.“ (Ansichten, S. 199)
Neuwirth kommentiert: „Selbst bei den umstrittenen Kompetenzen in Sachen Regierungsbildung sieht Van der Bellen für eine Reform „angesichts der Realverfassung“ keine Erfordernis. „Natürlich ist er auf dem Papier eine Art Pseudomonarch, aber in der Realität?“, fragt Van der Bellen. Diese Realität verhält sich für ihn ausnahmsweise eindeutig und unkompliziert: „Wer die Mehrheit im Parlament hinter sich hat, kann die Regierung bilden.“ (Ansichten, S. 199)
Neuwirth weiter: „Behutsamkeit ist für ihn hier oberstes Gebot. Diese Behutsamkeit hindert nicht daran, vorurteilslos über die Impulse, die von anderen Seiten kommen, zu reflektieren. Zu einer großen Verfassungsreform allerdings besteht für den Parteichef der Grünen ganz erkennbar keine Notwendigkeit. Diese Zurückhaltung begründet Van der Bellen auch: „Das alles muß man sich sehr lange und gründlich überlegen. Man kann nicht an einer Schruabe der Verfassung drehen und glauben, daß alles andere so bleibt, wie es ist.“ Und bevor man die Schraube in eine falsche Richtung dreht, scheint es Van der Bellen im Zweifelsfall lieber zu sein, sie gar nicht anzurühren. (Ansichten, S. 202 f)
Fünfzehn Jahre später liefert VdB in seinen Reflexionen eine – diplomatisch formuliert: eigenwillige – Interpretation des Artikel 56 des Bundes-Verfassungsgesetzes: „Politische Loyalität ist noch schwerer durchzusetzen [als Beamtenloyalität]. Jeder Landespolitiker und jeder Hinterbänkler macht die Erfahrung, dass er durch Kritik an der Parteispitze Widerhall in den Medien findet; ob diese Kritik sachlich fundiert ist, spielt eine geringe Rolle. Umgekehrt erwartet man von der Parteispitze, sich mit öffentlicher Kritik an der zweiten oder dritten Reihe zurückzuhalten; Alfred Gusenbauer hat das mehrfach erfahren. Insofern sind die Anreize für Loyalität asymmetrisch verteilt.“ (Die Kunst, S. 27 f) „Abgeordnete sind eben nicht Angestellte ihrer Fraktion, als solche wären sie der Klub- oder Parteichefin gegenüber weisungsgebunden, sondern sie berufen sich im Konfliktfall auf ihr ‚freies Mandat‘. Dieses wird von der jeweils zuständigen Parteiversammlung verliehen und am Wahltag von den Wählerinnen und Wählern bestätigt – oder eben nicht.“ (Die Kunst, S. 28)
Der Präsident, der gern von Anstand spricht, hat offenbar nicht viel übrig für die niederen Stände im Parlament. Abgesehen von der despektierlichen Bezeichnung „Hinterbänkler“, die versteckte Standesdünkel des Präsidentschaftskandidaten in spe aufdeckt, beweist das Zitat, dass VdB die österreichische Verfassung nicht gelesen hat. Der Absatz 1 Artikel 56 lautet: „Die Mitglieder des Nationalrates und die Mitglieder des Bundesrates sind bei der Ausübung dieses Berufes an keinen Auftrag gebunden.“
An keinen Auftrag gebunden impliziert: auch nicht an den Auftrag des jeweiligen Klubs. Das „freie Mandat“ - VdB schreibt es unter Anführungszeichen, womit er andeutet, dass dies nur so genannt werde, in Wahrheit aber nicht existiere – wird laut Verfassung nicht von der Partei verliehen, wie VdB irrtümlich meint, sondern vom Wähler! Das ist meiner Überzeugung nach der entscheidende Punkt, in dem die Abgeordneten aller Parteien ständig, ja sogar prinzipiell das B-VG missachten. Die Formulierung von VdB verrät auch ein zweifelhaftes Verständnis von repräsentativer Demokratie, in der das Recht von den Parteien ausgeht und das Volk nur absegnen darf, was die Parteien zuvor beschlossen haben.
Dem gegenüber lautet der Artikel 1, B-VG: „Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus“. Man könnte fragen: und wo kehrt das Recht ein, wenn es vom Volk ausgegangen ist? Ein Zyniker könnte antworten: im Staats- und Parteien-Apparat des Landes. Diese Tatsache sehe ich als Bedrohung der Demokratie. VdB sieht diese Tatsache offenbar als unabänderlichen, alternativlosen Status quo. Dem entsprechend gemächlich ist auch seine Politik in den Gemächern der Hofburg.
Siehe auch: Argumente pro und contra Klubzwang von Matthias Strolz
Ergänzung 3. Juli 2020: Die immerwährende Schönheit unserer Verfassung