Wer ist Putin? Mafiaboss, reichster Mann Russlands, ein Diktator wie Hitler oder der einzige Garant für Stabilität und Ordnung eines zerfallenen und jetzt wieder erstarkten Imperiums? Drei aktuelle Bücher, die unterschiedlicher nicht sein könnten, bringen Licht ins Dunkel. Hubert Thurnhofer hat sie für a3ECO gelesen. (Der Beitrag ist in der Ausgabe 7/2016 erschienen.)
Mit dem Kopf kann man Russland nicht verstehen,
Mit einem gewöhnlichen Maßstab kann man es nicht messen,
Mit diesem Land hat es eine besondere Bewandtnis:
Man kann an Russland nur glauben.
Dies ist die wörtliche Übersetzung eines Gedichtes von Fjodor Tjutschew, das der Dichter und Diplomat vor genau 150 Jahren geschrieben hat. Erster und letzter Vers dieses kurzen Poems sind zu einer Redewendung geworden, die jeder Russe kennt und verinnerlicht hat. Dieses Gedicht haben Philosophen wie Nikolaj Berdjajew als Quintessenz der russischen Mentalität interpretiert: einerseits thematisiert es den inneren Zwiespalt zwischen Kopf und Herz, anderseits stellt es das Postulat in den Raum, dass der Glaube über der Vernunft stehen müsse. Mehr noch: wenn Russland seinen Glauben verliert, dann droht das Land zu zerfallen.
LAUFEND AKTUELLE BERICHTE
aus Russland, Ukraine und dem Kaukasus siehe ULRICH HEYDEN
Genau auf diesem Selbstverständnis beruht Putins Karriere und sein Aufstieg zum „neuen Zaren“, wie ihn Steven Lee Myers charakterisiert. Akribisch recherchiert lässt er nichts aus, von Putins Kindheit und seinen Studienjahren in Leningrad, über seine eher mittelmäßige Karriere als KGB-Offizier in der DDR, seinen Einstieg in die Politik als Berater des Petersburger Bürgermeisters Anatoli Sobtschak bis zum Wechsel nach Moskau, wo er durch bedingungslose Loyalität das Vertrauen von Boris Jelzin gewinnt, der ihn dafür Ende 1999 – für alle unerwartet – auf den Thron gehoben hat.
Historisch war dieses Ereignis, weil es der erste freiwillige Rücktritt eines russischen Herrschers war. Und wohl auch deshalb, weil es ein Sieg der Vernunft war: die Einsicht Jelzins, dass Russland im neuen Jahrtausend einen Neuanfang braucht. Und am Ende einer turbulenten Politkarriere die Selbsterkenntnis des Scheiterns: „Ich möchte Sie um Vergebung bitten. Um Vergebung dafür, dass viele Ihrer Erwartungen enttäuscht wurden. Das, was uns einfach erschien, hat sich als qualvoll und schwierig herausgestellt“, sagte Jelzin bei der Ankündigung seines Rücktritts.
Diese Worte zitiert Steven Lee Myers in seinem 700-Seiten starken Werk „Putin – der neue Zar. Seine Politik – Sein Russland“. Darin zeichnet der US-Journalist, der 2002 und 2003 für die New York Times als Korrespondent in Moskau war, ein ausgewogenes Bild eines Politikers, der heute immer öfter als Diktator bezeichnet wird. Von westlichen Politikern ebenso wie von russischen Oppositionellen. Oder von russischen Dissidenten in westlichen Medien, wie Garri Kasparow, der seit über 20 Jahren seine Kommentare im Wall Street Journal publiziert und seine Positionen im Buch „Warum wir Putin stoppen müssen“ zusammengefasst hat.
Kasparow beansprucht, seinen Lesern „die wahre Natur Wladimir Putins“ zu vermitteln, „dessen einziges Ziel es ist, uns alle in ewiger Dunkelheit zu halten.“ Er tituliert Putin abwechselnd als Revanchisten, gerissenen Taktiker, Ungeheuer, Lügner, Pokerspieler, Falschspieler und Despoten. Putins Apparat bezeichnet er als Junta, seine Gefolgsleute als Strohmänner. Der ehemalige Schachweltmeister, der schon als junger Revoluzzer das System der Sowjetunion immer wieder provozierte, ist als Aktivist mehrfach gegen das System Putin auf die Straße gegangen, wurde dafür inhaftiert und lebt nun im Exil in Amerika. Garri kämpft mit Leib und Seele für Russland, und das ist für ihn gleichbedeutend mit seinem Kampf gegen Putin. Nach dem Ende seiner Schachkarriere im Jahr 2005 versucht er als Oppositionspolitiker Fuß zu fassen: „Es gab immer noch zahlreiche Oppositionsgruppen und NGOs, die gegen die zunehmende Marginalisierung kämpften. Egal wie klein oder ungefährlich diese Gruppen waren, sie wurden gnadenlos verfolgt, um die Zivilgesellschaft vollkommen unter Kontrolle zu bringen.“ Man kann einem Mann, der die Unterdrückung der Sowjetmacht und des Putin-Regimes am eigen Leib erlebt hat, mangelnde Ausgewogenheit nicht zum Vorwurf machen |
Garri Kasparow |
Aber auch ein Kämpfer für die Ideale der Freiheit und Demokratie muss sich einmal die Frage stellen, ob die Polarisierung zwischen „Gut“ und „Böse“ in der unseligen Tradition der Reagan-Doktrin noch zeitgemäß ist. Und ein Schachprofi muss sich irgendwann die Frage stellen, ob man heute, ein Vierteljahrhundert nach dem Ende des Kommunismus, die Welt noch in Schwarz und Weiß einteilen kann.
Gabriele Krone-Schmalz |
„Manche loben den Druck, der durch den NATO-Doppelbeschluss auf die Sowjetunion ausgeübt wurde und fordern Unnachgiebigkeit im Stile des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan, der die Sowjetunion das 'Reich des Bösen' nannte. Moskau verstehe nur diese Sprache, heißt es jovial“, schreibt Gabriele Krone-Schmalz, die meint, dass „derartige Hochrisikostrategien in heutiger Zeit für eine Außenpolitik“ nicht mehr tragbar seien. Gabriele, die während der Gorbatschow-Ära Moskau-Korrespondentin der ARD war und nun als Professorin für Journalistik in Iserlohn arbeitet, verteidigt mit redlicher journalistischer Objektivität Russland. Ihr Buch „Russland verstehen“ könnte in direkter Antwort auf Garri auch heißen: „Warum wir Putin verstehen müssen“. In zahlreichen Beispielen zeigt sie, dass nicht nur Russland einen starken Propaganda-Apparat hat, sondern dass auch die Wortwahl westlicher Politiker und Medien häufig einseitig ist. Nicht erst heute, in Zeiten der Sanktionen und damit einhergehender Sprachverschärfungen, sondern schon nach dem Zerfall der Sowjetunion: „Russland wurde weniger als Partner denn als Konkursmasse behandelt.“ |
Garri gegen Gabriele
über die (Wirtschafts-)Beziehung des Westens zu Russland:
Garri: „Jedes Mal, wenn Putin in Russland gegen die Opposition vorging oder wenn er sich aggressiv in die Innenpolitik der Nachbarländer einmischte, hätte der Westen Gegendruck ausüben können. Stattdessen wurde Putin immerfort mit noch engeren Beziehungen zu den führenden Demokratien der Welt belohnt. Vor allem aber wurde Russland der Zugang zu den lukrativen Märkten der freien Welt erleichtert.“
Gabriele: „Wenn der Westen bzw. seine Finanzinstitutionen Russland massiv unter Druck setzen und zwingen, Reformprozesse zu beschleunigen, dann bedeutet das gleichzeitig, sie zu brutalisieren. Darin liegen ein soziales Risiko und die Gefahr politischer Instabilität.“
Garri: „In einer Mafia ist Loyalität unverzichtbar, aber sie hat nur so lange Bestand, wie der Pate garantieren kann, dass das Geld fließen wird und dass er seine loyalen Gefolgsleute beschützen kann. Daher muss Putin unbedingt gute Beziehungen zu Westeuropa und Amerika unterhalten, wo seine Oligarchen am liebsten ihre Zeit verbringen und ihr Geld ausgeben. Wäre das Leben für einen russischen Milliardär lebenswert, wenn er es in dem tristen Land verbringen müsste, an dessen Ausplünderung er sich beteiligt hat, um sein Vermögen anzuhäufen?“
Gabriele: „Im Interesse Russlands war es natürlich, die wenigen Produkte, mit denen sie auf dem Weltmarkt konkurrieren konnten, zu exportieren, um selbst Devisen zu erwirtschaften. Das wiederum lag nicht so ohne weiteres im Interesse des Westens. Russische Lasertechnik und satellitengestützte Beobachtungssysteme wurden gezielt boykottiert. …. Am Beispiel eines russischen Flugzeugs (Aviatika 890) habe ich damals intensiv recherchiert: Alle Experten waren sowohl von der Technik als auch vom Preis-Leistungsverhältnis sehr angetan, aber es ist nicht gelungen, eine Zulassung für den europäischen oder amerikanischen Markt zu bekommen.“
Garri gegen Gabriele über den Vergleich Putins mit Hitler:
Garri: „Natürlich ist Putin nicht Hitler. … Wir müssen uns jedoch vor Augen halten, dass auch Hitler im Jahr 1936 und sogar in den Jahren 1937 und 1938 noch kein Hitler war! Die Ehrerbietung, die ihm Sportler und Würdenträger aus aller Welt bei den Olympischen Spielen in Berlin erwiesen, …. das zunächst ungehinderte Vorrücken der deutschen Armee über die nach dem Ersten Weltkrieg gezogenen Grenzen: dies waren die Dinge, die Hitlers Verwandlung in das Monster ermöglichten.“ Über fünfzehn Mal strapaziert Kasparow den Vergleich Putins mit Hitler und mokiert sich zuletzt sogar darüber, dass ihm die Autorenschaft streitig gemacht wird: „Als einer der Pioniere der Analogie und der unheilvollen Parallelen verfolge ich, wie der Vergleich zwischen Putin und Hitler, der anfangs skandalös gewirkt hatte, in den Medien rasch zum Gemeinplatz wurde.“
Gabriele: „Es ist mehr als taktlos, den russischen Präsidenten mit Hitler zu vergleichen, wenn man bedenkt, dass Wladimir Putins Familie die zweieinhalb Jahre dauernde Blockade Leningrads erlitten hat und einer seiner Brüder dabei sein Leben verlor“.
Haltlose Vergleiche
In Deutschland machte Finanzminister Wolfgang Schäuble nach Ausbruch der Krim-Krise Ende März 2014 mit folgender Aussage Schlagzeilen: "Das kennen wir alles aus der Geschichte. Solche Methoden hat schon der Hitler im Sudetenland übernommen - und vieles andere mehr." Umgehend sprang „Die Welt“ in die Bresche um ganz Deutschland zu erklären „was an Schäubles Putin-Hitler-Vergleich stimmt“ - Russische Regierungsmedien könnten davon noch lernen. Russlands Außenminister Sergej Lawrow erwiderte darauf: "Wir halten solche Art pseudohistorischer Exkurse des deutschen Ministers für eine Provokation".
Schäuble musste klar sein, dass er damit nicht zur Konfliktlösung, sondern ausschließlich zur Konfliktbeschleunigung beitragen würde. Schäuble musste auch besser als jeder andere wissen: Nicht alles was hinkt ist ein Vergleich. In der aktuellen Auseinandersetzung, die der Westen mit Russland führt, hinkt sehr viel. Historische Vergleiche suggerieren, dass der Urheber aus der Geschichte gelernt habe. Insbesondere wenn sich ein führender Politiker damit zum Nachhilfelehrer für Schüler aufschwingt, die er stellvertretend für ganz Deutschland belehrt. Tatsächlich sind solche Vergleiche in der Regel haltlos, weil die verglichenen Ereignisse in keinem direkten Kontext stehen.
Legitime Vergleiche wären Putin und Merkel, Putin und Obama, Putin und Assad, Putin und Erdogan u.v.a., weil sie alle heute aktive Politiker sind, deren Interessen manchmal aufeinander prallen und manchmal konform gehen. Ein legitimer Vergleich wäre Hitler mit Stalin, weil sie Politiker einer Epoche waren, deren Interessen manchmal aufeinander prallten und manchmal konform gingen. Auch Putin und Stalin kann man seriöser Weise direkt vergleichen, weil sie Herrscher eines Landes sind, wenn auch in unterschiedlichen Epochen. Gerade diesen Vergleich – Putin und Stalin – sollte man im Westen einmal genauer analysieren, um zu verstehen, warum Putin diesen Vergleich nicht als Affront, sondern als Kompliment versteht.
Schäubles Logik „Krim = Anschluss. Daraus folgt: Putin = Hitler“, die sich, wie Kasparow moniert, mittlerweile inflationär ausgebreitet hat, ignoriert ein historisches Faktum, das jedes Kind in Russland kennt. Die Krim, früher Teil des Osmanischen Reiches, wurde im 18. Jahrhundert von Russland erobert. Im Jahr 1954 hat der Parteichef Nikita Chruschtschow die Halbinsel in einer großzügigen Geste der Ukraine überschrieben, was innerhalb der Sowjetunion lediglich ein symbolischer Akt war. Immer war Sewastopol – auch nach der Unabhängigkeitserklärung der Ukraine – Stützpunkt der russischen Marine.
Indessen war die unabhängige Ukraine zwei Jahrzehnte lang nicht imstande, dieses Tourismusparadies für den Westen zu öffnen. Es gab nie einen Direktflug und nicht einmal Charterflüge von Simferopol, der Hauptstadt der Krim, in irgendeine westeuropäische Hauptstadt. Dafür aber jede Menge Flüge aus russischen Städten. Nicht zuletzt fühlte sich die Mehrheit der Krim-Bewohner immer Russland zugehörig. Das Referendum im März war die Grundlage einer moralisch legitimen und legalen Sezession. Wobei es dabei – im Gegensatz zur weit verbreiteten Meinung – gar nicht um das Völkerrecht geht, denn „Sezessionskonflikte sind eine Angelegenheit des nationalen Rechts und nicht internationalen Rechts“, so Gabriele Krone-Schmalz.
Nicht einmal in der Ukraine wird man viele Menschen finden, die die Sezession als illegal betrachten. Mir ist auch keine Resolution bekannt, in der die Ukrainische Regierung den Westen um Unterstützung zur Rückeroberung der Krim gebeten hätte. Die Sanktionen, die der Westen infolge der Krim-Sezession verhängt hat, sind daher ein Willkürakt - nicht nur aus der Sicht Putins.
Steven Lee Myers |
Provokation und Paranoia
Auch Myers schreibt wie selbstverständlich von der „Annexion der Krim.“ Und er beschreibt auch die zunehmend paranoiden Verhaltensweisen des russischen Präsidenten nach seiner offensichtlich manipulierten Wiederwahl zum Präsidenten im Jahr 2012. „Putin sagte zu Stahlarbeitern in Petersburg, die Wahlbeobachter seien Agenten ausländischer Mächte, die das Land destabilisieren wollten.“ Hillary Clinton, damals US-Außenministerien, hat ausdrücklich den Ablauf der Wahl kritisiert. Putin dazu: „Sie gab für einige Akteure in unserem Land den Ton vor und gab ihnen ein Signal“. Boris Nemzow nach der Wahl bei einer Protestkundgebung: „'Euch bringe ich später ins Gefängnis', sagte er und nannte verächtlich die Namen von Putin und dessen Geschäftskumpanen... Er schwor, wenn er erst an der Macht wäre, würden sie auf der Liste gesuchter Verbrecher landen.“ |
Laut Wikipedia ist Paranoia „ eine psychische Störung, in deren Mittelpunkt Wahnbildungen stehen.“ Die Bedrohungen, die Putin wahrnimmt, haben aber einen realen Hintergrund. Man kann durchaus behaupten, dass er die Macht der Kritiker und Gegner überschätzt und dem entsprechend auf jede Kritik mit überzogener Repression reagiert. Aber: „Putin ist kein Stalin, der meint, jeden vernichten zu müssen, der ihm möglicherweise irgendwann in der Zukunft einmal widersprechen könnte. … Putin ist jemand, der die Macht anhäufen will, die er benötigt, um seine unmittelbaren Aufgaben zu erfüllen“, zitiert Myers eine Einschätzung von Henry Kissinger. Verbale Abrüstung in der Beurteilung von Putins psychischer Verfassung würde Henry Kissinger wohl begrüßen.
Poesie und Pathos
Poesie und Pathos, Putin und Prawda (das russische Wort für Wahrheit) – all das inkludiert ein Wort, das in Russland wieder Konjunktur hat: Patriotismus. „Angesichts drohender Massenunruhen stellte sich Putin nicht nur als Garant der Errungenschaften seit der Sowjet-Ära dar, sondern auch als Führer der Nation im tieferen Sinne. Er war der Hüter ihrer sozialen und kulturellen Werte. … Als die Wahl (2012) näher rückte, standen die Russen vor einer ebenso schlichten wie lebenswichtigen Wahl. Diese lautete: Putin oder der Abgrund.“ So schildert Myers treffend die Stimmung Russlands vor Putins Wiederwahl zum Präsidenten.
Jeglicher Widerspruch wird als Provokation vermerkt. Jede Kritik persönlich genommen, denn Putin selbst als oberster Führer (der Begriff „Woschd“ wird im heutigen Russland sowohl auf Stalin wie auch auf Putin angewendet) braucht keine Kritik. Nicht weil sie seine Autorität untergraben könnte, sondern weil sie sein Vorrecht ist. Aus westlicher Sicht, geschult in der Dialektik, könnte man sagen: Putin ist Position und Negation in Personalunion. Aus russischer Sicht: Putin ist die Personifikation des Patriotismus und des ganzen Staates – und diese sind unantastbar.
„Wenn man mit Demokratie die Auflösung des Staates meint, dann brauchen wir so eine Demokratie nicht“, zitiert Myers Putin. Das erklärt, warum Kasparows Kritik zu kurz greift. Er sieht Putin als Ursache für „die Zerstörung der Demokratie in Russland“, so der Untertitel seines Buches. Damit geht er außerdem von einer Fehleinschätzung der Ära Jelzin aus, denn auch wenn unter Jelzin erstmals private Medien für Meinungsfreiheit sorgten und neue Parteien zugelassen wurden, konnte bei gleichzeitiger Gewährung eines Raubtierkapitalismus keine Rede von einer echten Demokratie sein.
„Zu glauben bedeutete, patriotisch zu sein. Patriotisch zu sein bedeutete, zu glauben.“ Mit diesen Worten erklärt Myers, warum die Mehrheit der Russen den Auftritt von Pussy Riot in der Moskauer Erlöserkirche verurteilt hat. Ob der Auftritt künstlerisch wertvoll war, sei dahingestellt. Jedenfalls war er Glaubensakt, Ausdruck der idealistischen Überzeugung mit Aktionismus etwas verändern zu können. Und der Auftritt war poetisch im weitesten Sinn des Wortes, nämlich dann, wenn man „Poesie“ als Konzept versteht, Emotionen unmittelbar und nicht über Vermittlung der Vernunft anzusprechen. Für das bestehende System Putins war der Auftritt nur eine Provokation, nahe am Verrat.
Ausblick 2017
Zum hundertsten Mal jährt sich im kommenden Jahr die Oktoberrevolution. Russland und Österreich erklären 2017 (deshalb oder trotzdem, die Frage bleibt ungeklärt) zum Tourismusjahr. Dies gab Putin nach seinem Treffen mit Heinz Fischer bekannt, der Anfang April dieses Jahres seinen Abschiedsbesuch in Moskau machte. Angesichts der zu erwartenden Feierlichkeiten wird Österreich wohl nur ein unbedeutender Nebenschauplatz bleiben. Aber welche Feiern sind zu erwarten?
Die Revolution selbst ist in der russischen Geschichtsschreibung mit all ihren Gräueltaten negativ behaftet. Auch deshalb wird jede Demonstration heute als Aufstand gesehen und als potenzielle Vorstufe zu einer Revolution im Keim erstickt. Die Gründung der positiv bewerteten Sowjetunion erfolgte erst am 30. Dezember 1922. So wäre nur ein Festakt im Oktober 2017 angemessen: die orthodoxe Beisetzung des 1924 verstorbenen Revolutionsführers, dessen Überreste immer noch im Leninmausoleum in Moskau wie in einem Heiligenschrein ruhen. Aber das wäre ein Wunder. Wenn man Russland liebt, darf man ja an Wunder glauben.
Hier sei nochmals an das eingangs zitierte Gedicht von Fjodor Tjutschew erinnert. Meine wortwörtliche Übersetzung ist vollkommen richtig, sie ist aber nicht wahrhaftig, d.h. nicht im Geiste des Verfassers. Sie ist nicht imstande, einen Eindruck seines poetischen, pathetischen und patriotischen Aspektes zu vermitteln. Diese Aspekte jedoch sind essenziell, deshalb hier die wahre Übersetzung:
Du kannst es nicht verstehen,
Wägen wie ein Kilo Trauben.
Sträflich wäre dies Vergehen -
An Russland musst du glauben.
Siehe auch: "Meinst du, die Russen wollen Krieg?" Ben Becker liest Jewgeni Jewtuschenko.
Siehe auch: Eine Milliarde für Lenin
Am 24.10.2016 erklärt DIE WELT, "Warum die Russen über Europa nur noch lachen"...
Ergänzung 5.1.2017: "Die Sanktionen der EU gegen Russland und die Gegensanktionen des Landes haben 2015 EU-weit einen volkswirtschaftlichen Schaden von 17,6 Mrd. Euro angerichtet, zeigt eine neue WIFO-Studie im Auftrag des Wirtschaftsministeriums. Die österreichische Wirtschaftsleistung verringerte sich aufgrund des Handelskriegs laut den Angaben um 550 Mio. Euro", berichtet orf.at.
Ergänzung 6.12.2018: "Russia Must Pay Pussy Riot Members $55,000 in Compensation for Violating Their Human Rights", berichtet artnet.com
Ergänzung 8.1.2019: Ulrich Heyden analysiert auf heise.de, warum Putins Popularität zu Beginn seiner vierten Amtszeit zu bröckeln beginnt.
Siehe auch: Der Tunnelblick eines Historikers über das Buch von Timothy Snyder