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Als zentrales Thema yon Musils erstem Roman könnte man die Verwirrungen ansehen, in die Törleß gerät, nachdem seine latente, pubertäre Sexualität in ihm zum Ausbruch gekommen war.

 

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Eine psychoanalytische Interpretation legt also schon der Titel des Romans nahe; außerdem das zentrale Sujet, mit dem der Dichter zeigen will, wie das latente Unbewußte sich manifestiert; drittens ein Vergleich der Romanhandlung mit Musils eigener Biographie; und nicht zuletzt die Berufung auf höhere Autoritäten wie MusilsFreund Karl Otten oder den Literaturwissenschafter Harry Goldgar, die den Törleß als erstes unmittelbares Ergebnis psychoanalytischer Wirkungsgeschichte interpretiert haben.

Karl Corino, der in seiner Arbeit Ödipus oder Orest? RobertMusil und die Psychoanalyse (20) Musil auf die Couch legt, bezweifelt einen unmittelbaren Zusammenhang von Freud und Musil: „Goldgars Aufsatz krankt leider daran, daß er auf jeden konkreten Nachweis verzichtet, welche von Freuds bis Ende 1904 erschienenen Arbeiten auf den "Törleß" gewirkt haben könnten.“ (21) Wenn Corino auch den direkten Zusammenhang abweist, so verweist er doch auf die geistige Verwandtschaft, indem er zustimmend Annie Reniers zitiert. Sie spricht „zu Recht "von Affinitäten, ähnlichen Interessen und vergleichbarenAhnungen", was Musils Erstling in seinem Verhältnis zur Freudschen Lehre betrifft. (22)

Die Afftnität von Törleß und Freud gebraucht Corino eigentlich nur, um eine AffInität von Törleß und Musil aus Freudscher Perspektive herzustellen. Die autobiographischen Züge im Törleß stehen außer Zweifel; nur: eine psychoanalytische Umdeutung eines literarischen Textes ist immer gleichermaßen originell, wie problematisch. Das zeigt die kurze Passage, in der Corinoauf den Tärleß eingeht, exemplarisch. Zur Interpretation des Romans zieht Corinoeinen Brief an Pau! Wiegler heran, in dem Musil schreibt: „ich muß sagen, daß ich etwa in den schönen Berichten der französischen Psychiater jede Abnormität ebensogut nachempfinden kann und darstellen zu können glaube, wie die gerade von mir gewählte, verhältnismäßig landläufige. Darin liegt allerdings ein psychologisches Problem, aber jedenfalls ist es so, daß ich ganz mich in solchen Gefühlskreis hineinversetzen kann, ohne in meinem Wollen ernstlich berührt zu werden.“ (23)

Corino interpretiert: „Deutlich hat dieser Brief Abwehrcharakter und Alibifunktion. Der junge Autor, bemüht, die Heterosexualität in sich zu festigen, will eine Distanz schaffen zwischen sich und dem, was selbst Freud angepaßt-moralisierend die "widrigste" der Perversionen nennt, "die sinnliche Liebe des Mannes für den Mann".(24)

Will also Musil in seinem Brief verschleiern, was er im Roman allzu offen eingestanden hat? Nicht nur das, Corino zitiert einen anderen Brief an Mattia di Gaspero, in welchem Musil enthüllen will, was er eigentlich verborgen hat. Musil schreibt: „Ein Gewährenlassen der Homosexualität würde die Gesellschaft wahrscheinlich gar nicht, der Incest kaum mehr gefahrden als die Straflosigkeit des Diebstahls. Unrechtlicher sind diese Delikte also kaum, dennoch den meisten ekelhafter. Ist dieser starke Gefühlsüberwert neben dem rechtlichen Gleichwert nicht merkwürdig?“ (25)

Corinointerpretiert: „Man spürt an der Verve des Plaidoyers: Musil spricht pro domo; man ahnt den prophetischen Gehalt des Romanschlusses, wenn Törleß zum Haus der Bozena hinüberblickt und gleichzeitig "den leise parfümierten Geruch" prüft, "der aus der Taille der Mutter" aufsteigt. Die Assoziation Hure-Mutter wird in der Folgezeit so eng, daß die Dirne bzw. Bordellwirtin "Mama" heißen kann.“ (26)

Ein Exkurs über den "Typus von Liebhaber, der Dirnen favorisiert" (27), und ein Zitat aus Musils Tagebuch, in welchem dieser den Augenblick schildert, wo er seine Mutter das einzige Mal nackt gesehen hat, "dokomentieren hinlänglich Musils inzestuös fixierte Libido". (28)

Ich meine, die Interpretation Corinos müßte man nicht weiter kommentieren, wenn er sie selbst als Gedankenexperiment verstehen würde, das zeigen soll, wohin die konsequente psychoanalytische Textinerpretation führen kann. Aber nicht als Gedankenexperiment (und man beachte das bloß Spekulative, das diesem Begriff anhaftet), sondern als Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung sind die Ausführungen Corinos implizit zu verstehen. Darum zwei (wissenschaftliche) Anmerkungen:

1. Corino übersieht den Widerspruch, in den er sich hinein argumentiert, wenn er aus einem Brief entnimmt, Musil wolle verbergen, was er schon enthüllt hat, und aus einem andern Brief gerade das Gegenteil. Will Musil seine sexuellen Neigungen nun exhibitionieren oder inhibitionieren?

2. Corino versucht zuerst in den Roman die Verwandtschaft von Törleß und Musil hineinzulegen, und das ist berechtigt. Aber er geht dann dazu über, die biographische Afftnität als lineare Identität auszulegen, und das ist falsch.

Aber ist eine psychoanalytische Textinterpretation grundsätzlich unmöglich? Um diese Frage zu beantworten und um der Psychoanalyse gerecht zu werden, will ich versuchen, den Törleß im Anschluß an Lacan zu interpretieren. Lacans Konzeption, wonach das Unbewußte analog zur Sprache zu verstehen ist, scheint eine fruchtbare Voraussetzung für eine Textinterpretation zu sein. Zwei Prämissen werden dabei vorausgesetzt: "Das Unbewußte ist gleich einer Sprache gebaut" (29) und "das Unbewußte enthüllt sich als Gespräch mit dem Anderen." (30)

Lacan hat selbst im Seminar über E.A. Poes Der entwendete Brief(31) versucht diese Prämissen, aber vor allem "die Insistenz der signifIkanten Kette" (32) zu verifizieren. Mit signifikanter Kette oder symbolischer Ordnung meint Lacan ein über die psychoanalytischen Effekte (wie Verdrängung, Verneinung u.a.) hinausgehendes Gesetz, das die Menschen determiniert. Die signifIkante Kette schmiedet nicht nur ein Individuum an seine eigenen Fehlleistungen oder Neurosen, sondern jeder, der mit einem Signiftkanten dieser Kette in Berührung kommt, wird von diesem determiniert. Konkret: Der Wiederholungszwang ist keine individuelle Neurose, sondern ist Ausdruck einer signifikanten Kette, deren Baharrlichkeit (Insistenz) sich über mehrere Personen erstreckt.

In Betonung dieses Aspekts gelangt Lacan dahin, „die Wahrheit, die sich aus dem Moment des Freudschen Denkens, das wir untersuchen, ergibt, daß nämlich die symbolische Ordnung konstitutiv sei für das Subjekt, Ihnen heute an einer Geschichte zu illustieren; und zwar indem wir Ihnen an dieser Geschichte darstellen, wie das Subjekt aus dem Durchlauf eines Signifikanten eine höhere Determinierung erfahrt. Diese Wahrheit, das wollen wir festhalten, ist noch die Voraussetzung der Fiktion. Folglich eignet sich eine Fabel so gut wie jede andere Geschichte, sie ins Licht zu rücken.“ (33)

Kurz der Inhalt von Poes Erzählung: Die erste Szene spielt im königlichen Boudoir. Die Königin liest gerade einen Brief, als plötzlich der König eintritt. Da dieser von dem Brief nichts erfahren soll, und da sich die Königin nicht durch eine hastige Bewegung verraten will, läßt sie den Brief offen liegen. Im nächsten Moment tritt der Minister D. ein, der die Situation sofort durchschaut. Er legt einen Brief aus seiner Tasche neben den der Königin. Eine Viertelstunde später beendet er die Unterredung mit dem König, und packt dabei den Brief, aber den der Königin, wieder ein. Die Königin schaut ihm dabei zu, ohne daß sie etwas tun kann.

Die zweite Szene ist im Büro des Minister D. lokalisiert: Der Polizeipräfekt wird beauftragt (natürlich streng vertraulich), den Brief wieder zu fmden, was ihm trotz einer peniblen Durchsuchung von Haus und Büro des Ministers nicht gelingt. Der Präfekt sucht daher Rat bei Dupin. Der Dedektiv Dupin besucht daraufhin selbst den Minister. Während er sich mit ihm unterhält, findet er besagten Brief offen in einem Regal liegen, allerdings gewendet wie ein Handschuh und neu adressiert. Sobald er keine Zweifel mehr hat, daß es der richtige Brief ist, verabschiedet sich Dupin vom Minister und vergißt bewußt eine goldene Schnupftabakdose. Am nächsten Morgen kommt Dupin wieder. Während der Minister von einem Schuß auf der Straße abgelenkt wird (ein von Dupin inszenierter Tumult), nimmt Dupin besagten Brief und legt ein Duplikat an seine Stelle. Über den Polizeipräfekten erhält die Königin ihren Brief zurück, und

Dupin bekommt die ausgesetzte Belohnung.

Lacan entdeckt in dieser Erzählung folgende Struktur:

1. Ein Blick, der nichts sieht. Das ist in der ersten Szene der König, in der zweiten die Polizei.

2. Ein Blick, der sieht, daß der erste nichts sieht. Das ist zuerst die Königin, dann der Minister.

3. Ein Blick, der sieht, daß diese beiden Blicke das zu Verbergende offen liegen lassen, was zuerst auf den Minister, und dann auf Dupin zutrifft.

Lacan meint in diesem intersubjektiven Muster den Wiederholungszwang zu erkennen: „Die Pluralität der Subjekte kann selbstverständlich kein Einwand sein für all jene, die seit langem schon mit der Perspektive vertraut sind, die unsere Formel: das Unbewußte ist der Diskurs des Andern zusammenfaßt [ ...] Was uns heute interessiert ist die Art und Weise, in der sich die Subjekte in ihrer Verschiebung im Laufe der intersubjektiven Wiederholung ablösen. Wir werden sehen, daß ihre Verschiebung durch den Ort bestimmt wird, den der reine Signifikant, der entwendete Brief, in ihrem Trio einnimmt. Genau darin wird die Verschiebung sich uns als Wiederholungszwang darstellen.“ (34)

Analog zu Lacans Interpretation des entwendeten Briefes übernimmt in den Verwirrungen des Zöglings Törleß die Rolle des Signifikanten Basini. Er löst die signifikante Kette aus, die im Unbewußten vorstrukturiert ist. Ähnlich wie im entwendeten Brief äußert sich die signifikante Kette im Törleß als Wiederholungszwang.

Basini wird von Reiting als Dieb entlarvt. Reiting enthüllt seinen Freunden Beineberg und Törleß seine Entlarvung. So wird Basini signifIkantes Objekt und Opfer der drei Freunde, d.h. Der SignifIkator "Basini" läßt sich beschreiben mit dem Signifikanten "Opfer". Der SignifIkator löst im folgenden bei denjenigen eine signifIkante Kette aus, die in Basini den Signifikanten "Opfer" erkennen. Die signifikante Kette ist im Unbewußten vorstrukturiert heißt hier: Der Signifikant "Opfer" denotiert den Signifikator "Basini" und konnotiert im Lexikon des Unbewußten die Lexeme "Strafe, Qual, Erlösung".

Was heißt das? Zuerst wird Basini Opfer Reitings. Der Leser erfährt nur indirekt davon, indem Beineberg die "gewisse" Geschichte Törleß erzählt:

"Er glaubt uns betrügen zu können."

"Ist er verliebt?"

"Gar keine Spur. So ein Narr ist er nicht. Es unterhält ihn, höchstens reizt es ihn sinnlich."

"Und Basini?"

"( ... ] Reiting wird ihm versprochen haben, ihn zu schützen, wenn er ihm in allem zu Willen ist." (P 54 f)

In kurzen Worten kommt hier Reitings Sadismus zum Ausdruck, mit welchem er Basini "zur Unterhaltung" quält, und gleichzeitig wird auf das Erlösungsmotiv angespielt: er wird Basini dafür schützen. Im gleichen Gespräch zeichnet sich aber auch ab, daß sich diese Handlungskette signifikant mit Beineberg und Basini wiederholen wird. Er verwirft den Vorschlag von Törleß, Basini anzuzeigen und dem Direktor auszuliefern. Beineberg rechtfertigt sein Vorhaben mit obskuren, nebulösen Ideen:

Was mir einredet, Basini laufen zu lassen, ist von niederer, äußerlicher Herkunft. Du magst dem folgen. Für mich ist es ein Vorurteil, von dem ich los muß wie von allem, das von dem Wege zu meinem Innersten ablenkt. Gerade daß es mir schwer fallt, Basini zu quälen, - ich meine, ihn zu demütigen, herabzudrücken: von mir zu entfernen, - ist gut. Es erfordert ein Opfer. -Es wird reinigend wirken. Ich bin mir schuldig, täglich an ihm zu lernen, daß das bloße Menschsein gar nichts bedeutet.“ (P 60).

Der Begriff Opfer ist nach wie vor zentral, nur verschiebt sich sein Inhalt um eine Nuance: Opfer ist nicht nur der Gequälte, sondern auch der Quälende. "Erlösung", "Reinigung" erlangt aber nur der Quälende, indem er sich über das Opfer erhebt.

Die dritte Wiederholung der signifikanten Kette spielt sich zwischen Törleß und Basini ab. Das Opfer ist wieder Basini, aber Törleß wird, indem er mit dem Signifikanten spielt, selbst Spielball,

"Opfer" der signifikanten Kette. Hierin liegt eine neuerliche Verschiebung der Opfersymbolik:

"Du mußt mir alles erzählen! Ich will es so; verstehst du? Obwohl ich es schon von den andern gehört habe." Törleß wurde bei dieser unbeholfenen Lüge rot. Basini biß sich die Lippen.

"Nun wird's?!"

"Nein, verlange nicht, daß ich erzähle! Bitte, verlange es nicht! Ich will ja alles tun, was du willst. Aber laß mich nicht erzählen... Oh, du hast solch eine besondere Art mich zu quälen..!"

Haß, Angst und eine flehentliche Bitte kämpften in den Augen Basinis. Törleß lenkte unwillkürlich ein.

"Ich will dich gar nicht quälen. Ich will dich nur zwingen, selbst die volle Wahrheit zu sagen. Vielleicht in deinem Interesse." (P 99)

Der letzte Satz sagt ganz deutlich: ich zwinge dich, ich quäle dich nur in deinem Interesse, im Interesse deiner eigenen Erlösung. Qual und Erlösung, Quälender und Gequälter werden so zu völlig kongruenten Begriffen.

Die Szenen, in welchen die drei Freunde gemeinsam Basini quälen, fügen sich in die aufgezeigte Struktur des Unbewußten unmittelbar ein: die Einheit von Strafe, Qual und Erlösung, vermittelt durch das Opfer Basini, wird nicht nur in einer individuellen signifikanten Kette manifest, sondern gerade im gemeinsamen Vollzug als quasi rituelle Handlung manifestiert sich die Signifikanz der signifikanten Kette.

Fraglich bleibt die Flucht von Törleß, nachdem Basini sich selbst dem Direktor gestellt hatte. Aber auch das läßt sich mit ein bißchen Phantasie (oder aber mit wissenschaftlicher Akribie) in das psychoanalytische Schema fassen: Törleß hat selbst Basini vor der bevorstehenden Lynchjustiz der ganzen Klasse gewarnt. Indem Basini daraufhin handelt und sich dem Direktor stellt, bleibt er nicht der bloße Signifikant, der er vorher war, und sprengt so die signifikante Kette. Die einzelnen Glieder der Kette, Törleß, Reiting und Beineberg, fallen nacheinander heraus, und beginnen eine andere Rolle zu spielen, eine andere symbolische Ordnung zu dekodieren.

Die wesentliche Frage, die eine Analyse nach Lacan aufwirft: Wird diese Interpretation dem Roman gerecht? Diese Analyse konnte eine Beziehungsstruktur offenlegen, die meines Erachtens aber nicht "die Insistenz der signifikanten Kette" als gültiges Gesetz erweist, sondern vielmehr wiederspiegelt, wie gesellschaftliche Machtstrukturen funktionieren. Der wirklich brisante Inhalt des Törleß - die Beziehung von Sexualität und Gewalt - wurde allerdings weder in meiner Analyse, noch in der Corinos direkt thematisiert. Helga Geyer-Ryan bringt dieses Problem auf den Punkt:die Musilforschung protestiert zuviel. Nicht um Sexualität ginge es im Törleß, sondern um so viel höhere Dinge wie Erkenntnistheorie, Subjektphilosophie, Sprachskepsis. Die Sexualität sei marginal, ihre als "Ab-irrungen" und "Verirrungen" geschulmeisterten Formen ebenso. Musil hat diesem Chor kräftig vorgesungen, und bereitwillig lassen sich Interpreten und Kritiker auf die Abstellgleise höherer Spiritualität und mystischer Gefühle verschieben.“ (35)

Im Rahmen meiner Interpretation und im Hinblick auf den MoE interessiert mich aber doch die Frage, in welchem philosophischen Kontext zentrale Motive des Törleß stehen. In dieser Frage ist das Urteil von Jan Aler wohl zu überschwenglich ausgefallen: „Offensichtlich hat man es hier mit einem philosophischen Roman zu tun - ohne Ironie sei es diesmal gesagt. Bekanntlich ist der Törleß auch tatsächlich der Roman eines Philosophen.“ (36)

Es finden sich im Törleß zwar philosophische Ansätze, aber noch lange nicht Musils ausgeprägte Methode des Philosophierens. Im Törleß spiegelt sich vielmehr seine geistige Herkunft; Musils Erstling ist ein Vorspiel seiner Philosophie der Zukunft.

Besonders augenfällig ist das immer wiederkehrende Motiv der Dunkelheit, das starke Anleihen bei Nietzsche macht. Es findet sich zuerst an der Stelle, wo Beineberg und Törleß die Prostituierte Bozena besuchen:Mit raschen, vorsichtigen Sätzen waren sie - an dem Lichtschein, der keilförmig durch die Fenster des Erdgeschosses fiel, vorbei - in dem dunklen Hausflur. [ ... ] Törleß preßte sich erschrocken um die Windung der Stiege. Aber man schien ihn trotz des Dunkels bemerkt zu haben, denn er hörte die spöttische Stimme der Kellnerin, während die Tür wieder geschlossen wurde, irgend etwas sagen, worauf ein unbändiges Gelächter folgte. Auf dem Treppenabsatz des ersten Stockwerkes war es völlig finster.“ (P 28)

Erst im Zimmer Bozenas, die auf ihrem Bett liegt und billige Romane liest, ist es wieder hell. Dieser starke Kontrast findet sich im Gespräch wieder. Während Törleß über seine "dunklen Leidenschaften" (P 32) sinniert, spöttelt Bozena zynisch über die "feinen jungen Herren" (P 35) aus dem Internat. Dieser starke Kontrast findet sich auch bei Nietzsche wieder, und zwar in der "Duplizität des Apollinischen und des Dionysischen" (37) Mit folgenden Gegensatzpaaren charakterisiert Nietzsche diese Duplizität: Apollinisch I Dionysisch, Kunst des Bildners I unbildliche Kunst der Musik, Traum I Rausch, Wahrsagung I Verklärung, principium indivituationis I Bund zwischen Mensch und Mensch, theoretische Weltbetrachtung I Lust des Daseins.

Die wechselseitige Abhängigkeit des Apollinischen und Dionysischen, die bei Nietzsche vor allem als Kunstprinzipien gelten, erscheint bei Musil als Wechselbeziehung zweier Erkenntnisprinzipien (Erkenntnis im Sinne der Selbsterkenntnis und Selbstfindung). Besonders deutlich zeigt die Episode bei Bozena, wie das Apollinische und Dionysische nicht nur einander bedingen, sondern auch ineinander fließen: Auf der einen Seite Bozena, die sich mit Schnaps betrinkt (das Wort "berauscht" klingt fast zu poetisch in diesem Kontext) und gleichzeitig Törleß und Beineberg die Doppelmoral ihres Besuchs vor Augen führt. Auf der anderen Seite Törleß, der in einen traumartigen Zustand versunken ist und gleichzeitig seine Mutter verklärt, die ihm als Geschöpf erscheint, "das bisher in wolkenloser Entfernung, klar und ohne Tiefen, wie ein Gestirn jenseits alles Begehrens durch mein Leben wandelte" (P 33).

Auch in anderen Szenen karm man diesen Kontrast finden: am fmsteren Dachboden, wo Reiting, Beineberg und Törleß ihr ebenso finsteres Spiel mit Basini treiben, aber gleichzeitig mit dem Anspruch auf Erhellung ihrer eigenen Existenz oder mit dem Motiv, Basini zur Selbsterkenntnis zu zwingen. In einer solchen Episode muß Törleß daran denken, „daß seine Eltern wohl durch das allzu Taghelle ihres Daseins blind gegen das Dunkel seien, in dem seine Seele augenblicks wie eine geschmeidige Raubkatze kauerte.“ (P 129).


Resümee

Dunkelheit ist das Element, das Törleß immer wieder zu Reflexion und Selbsterkenntnis "verleitet". Die Helligkeit, die sonst sogar ein Synonym für Klarheit und Erkenntnis ist, wird hier in Frage gestellt: Licht kann nicht nur erhellend wirken, sondern auch blendend.

Der andere wesentliche Aspekt im Törleß liegt im Motiv des Suchens; ein philosophisches Motiv, das sich im MoE wiederfindet. Törleß sucht seine eigene Persönlichkeit in der Sinnlichkeit zu entdecken, und er sucht nach dem Wesen der irrationalen Zahlen. Er sucht Antwort auf seine Fragen bei Kant, aber auch bei Basini, den er ins Kreuzverhör nimmt.

Bei Ulrich im MoE ist das Suchen scheinbar Selbstzweck, denn er sucht keine Antworten, sondern vielmehr die Fragen, die hinter jeder Antwort stehen. Das Suchen ist für Ulrich aber nur scheinbar Selbstzweck, weil damit mehr zum Ausdruck kommt als seine Ratlosigkeit. Es äußert sich darin ein philosophisches Konzept: Philosophie ist demnach keine Lehre, sondern eine bestimmte Art zu fragen.


Anmerkungen:

20 erschienen in: Musilstudien 4, S. 123 ff

21 a.a.O., S. 154

22 a.a.O., S. 154

23 a.a.O., S. 157

24 a.a.O., S. 158

25 a.a.O., S. 158

26 a.a.O., S. 159

27 a.a.O., S. 162

28 a.a.O., S. 163

29 Hermann Lang, Die Sprache und das Unbewußte, S. 117

30 a.a.O., S. 121

31 erschienen in: Lacan, Schriften I, S. 9 ff

32 a.a.O., S. 9

33 a.a.O., S. 9 f

34 a.a.O., S. 14

35 Die allgemeinste Erniedrigung. Über das Liebesleben des jungen

Törleß. Diesen Vortrag hielt Helga Geyer-Ryan am 4.9.1987 in

Klagenfurt im Rahmen des Internationalen Robert Musil Seminars.

36 Als Zögling zwischen Maeterlinck und Mach, a.a.O., S.235

37 Die Geburt der Tragödie, Werke I, S. 21

 

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