Kommentar in der Wiener Zeitung, 18. Juni 2020
Zehn A4 Seiten umfassen allein die Überschriften zu den Corona-Gesetzen und -Verordnungen. Wie viele davon sind verfassungskonform? Hat sich die Verfassung in der Krise bewährt?
(c) Ernst Zdrahal, Die letzten Tage der Menschheit
Alle Verordnungen und Bundesgesetze seit dem Shutdown sind abrufbar auf oesterreich.gv.at. Das Portal bietet zu jeder neuen Bestimmung einen Link zum Originaltext. Die Übersicht beginnt bereits mit einer Verordnung betreffend die Betriebsbeschränkung vom 28. Februar und endet (Stand 29. Mai) mit einer Verordnung „mit der die Verordnung, mit der zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19 besondere Vorkehrungen in Strafsachen getroffen werden, geändert wird“. Die Verordnung zur Verordnung zeigt, was Anlassgesetzgebung bedeutet: gestern verordnet, heute wieder aufgehoben.
Als Unternehmer hat mich gewundert, dass die staatlichen Hilfspakete über die Wirtschaftskammer ausbezahlt werden. Warum nicht über das Finanzamt direkt, an das jedes Unternehmen monatlich seine Umsatzsteuer überweist und das am besten über die finanzielle Lage der Unternehmen Bescheid weiß? Das Bundesgesetz vom 15. März, mit dem das Wirtschaftskammergesetz 1998 geändert wird, gibt darüber keine Auskunft. Der Zusatzparagraf 76a bestimmt in vier Absätzen vielmehr, was zu tun ist, wenn Umstände eintreten, „die den Anfang, die Fortsetzung oder Beendigung der Wahlhandlung verhindern“.
Zur Erinnerung: von 2. bis 5. März waren Wirtschaftskammerwahlen. Für die Zukunft ist damit gesichert, dass eine Kammerwahl von keiner Krise erschüttert oder gar unterbrochen werden kann. Die Regelung der Frage, auf welcher Rechtsgrundlage die Kammer in die Bilanzen der Unternehmen schaut und Entscheidungen über die Höhe von staatlichen Förderungen trifft, bedarf dagegen keines eigenen Gesetzes, sondern wird in zwei Absätzen des Härtefallfondsgesetzes lapidar festgeschrieben.
Das Härtefallfondsgesetz ist schlanke zwei Seite, es zieht aber über 40 Gesetzesänderung auf 28 Seiten nach sich. Sogar Juristen können hier den Überblick verlieren – und nur wenige Nationalratsabgeordnete sind Juristen. Per Mail habe ich alle Nationalräte und -rätinnen gefragt, ob die Verordnungen und Gesetze nach dem Lockdown alle verfassungskonform waren. Geantwortet haben nur wenige, aber immerhin die Zweite Präsidentin des Nationalrates, Doris Bures. Sie schreibt:
„Die Sicherheit, dass alle Gesetzesbeschlüsse des Nationalrates inhaltlich verfassungskonform sind, wird es nie geben. Sicher gehen wir davon aus, dass alle Abgeordneten in bestem Wissen und Gewissen verfassungskonforme Gesetze beabsichtigt haben. Zur Sicherung der Verfassungskonformität ist aber in Österreich der Verfassungsgerichtshof zuständig.“
Nachdem die Sozialpartner in der Realverfassung der Zweiten Republik immer schon eine dominierende Rolle gespielt haben, wurden sie 2008 (unter Kanzler Alfred Gusenbauer) mit einem eigenen Verfassungsartikel geadelt, B-VG Artikel 120a: „(2) Die Republik anerkennt die Rolle der Sozialpartner. Sie achtet deren Autonomie und fördert den sozialpartnerschaftlichen Dialog durch die Einrichtung von Selbstverwaltungskörpern.“
Dieser Artikel findet sich im Bundes-Verfassungsgesetz, dem Kern der österreichischen Verfassung, die in diesem Jahr ihr 100-jähriges Jubiläum feiert. Darüber hinaus finden sich (vorausgesetzt man weiß, wo man suchen soll), hunderte Verfassungsartikel in normalen Bundesgesetzen. Damit haben die Mehrheits-Parteien die Kompetenzen des Verfassungsgerichtshofs de facto ausgehebelt. Denn eine der wichtigsten Aufgaben des VfGH besteht in der Prüfung, ob Gesetze verfassungskonform sind. Im Zweifelsfall haben die Parteien vorauseilend normale Bundesgesetze in Verfassungsrang gehoben, womit sie nicht mehr der Prüfung des VFGH unterliegen. Diese politische Praxis ist einer der Gründe, warum die österreichische Verfassung einer grundlegenden Reform bedarf.
Der Hauptgrund ist jedoch ein anderer: es ist unmöglich, dass eine Verfassung, die mit Nebenverfassungsrecht 500 Seiten umfasst, Grundlage unserer Demokratie sein kann, denn so ein Konvolut ist für die Mehrheit der Bürger unverständlich. Die meisten Bürger finden sich damit ab und resignieren. Die wenigen Verfassungsexperten des Landes finden sich ebenso damit ab, und halten den Status quo für alternativlos. Aus Sicht von Immanuel Kant ist das ein Fall von selbstverschuldeter Unmündigkeit. Wenn die Aufklärung den mündigen Bürger postuliert, so sollte dies umso mehr für die Demokratie gelten.
Wer die Politik nur oberflächlich verfolgt, kann feststellen, dass unsere Demokratie schwächelt. Wer aktiv in einer Bewegung der Zivilgesellschaft mitarbeitet, muss feststellen, dass auf den Fundamenten unserer Verfassung Wände errichtet wurden, die das parteipolitische Establishment vor dem Volk schützen. Ein Beispiel ist das Parteiengesetz, mit dem sich die bestehenden Parteien ihre Pfründe sichern während es für neue Parteien immer schwieriger wird, einen Fuß in das System zu bekommen.
"Gegen Gesetze und/oder Verordnungen zur Eindämmung des Corona-Virus liegen dem VfGH bisher rund 70 Anträge vor", berichtet die Wiener Zeitung am 8.6.2020.Wie immer man die einzelnen Verordnungen und Gesetze zur Bewältigung der Corona-Krise beurteilen mag, verfassungskonform oder nicht, ist sekundär.
Primär ist die Frage, auf welchem Prinzip basiert diese Gesetzgebung. Und die Antwort lautet: auf dem Legalitätsprinzip. In der Praxis, die wir nun drei Monate verfolgen konnten, schaut das so aus: die Regierung entscheidet sich für eine Maßnahme und die Parlamentsjuristen schütteln in kürzester Zeit die dazu passenden Gesetze aus dem Ärmel. So wird das Legalitätsprinzip zum Selbstzweck. Bestenfalls. Schlimmstenfalls ist das eine widerrechtliche Selbstermächtigung der Regierung, die sich von der Selbstermächtigung des ungarischen Regierungschefs nur marginal, nicht prinzipiell unterscheidet.
Eine demokratische Verfassung darf kein Selbstzweck sein und lediglich der Legitimation der Regierungspolitik dienen, sondern muss imstande sein die Entwicklung der Demokratie zu fördern. Auch in Krisenzeiten! Diesem Anspruch wird die bestehende Verfassung Österreichs nicht gerecht. Und wenn es nach den Parteien dieses Landes geht, dann wird sich daran auch in näherer Zukunft nichts ändern. So doziert die Zweite Nationalratspräsidentin:
„In Hinblick auf einzelne Bestimmungen wiederum wird auch die aktuelle Situation freilich Anlass zur Debatte über Änderung, Anpassungen an neue technische Möglichkeiten und Bedürfnisse geben. Solche Änderungen, gerade auf verfassungsrechtlicher Ebene sollten jedoch gewissenhaft abgewogen werden und daher erst nach Bewältigung der aktuellen Herausforderungen allenfalls umgesetzt werden. Bedarf für eine Gesamtreform der österreichischen Bundes-Verfassung besteht daher nicht.“
Auch wenn ich im Zeitgeist des Jahres 2020 viele Ähnlichkeiten mit dem Ende der Monarchie sehe, so will ich damit nicht „die letzten Tage der Menschheit“ beschwören. Doch es ist bedenklich, wenn die Systemträger die sichtbaren Schwächen unserer Parteiendemokratie völlig ignorieren und Diskussionen über die Ursachen dieses Zustandes verweigern.
Siehe auch: Monika Donner, Verfassungsbrüche – Das Versagen der Beamten, Politiker und Medien, Kommentar auf fischundfleisch