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1. 4. 2019 - In der vergangenen Woche bin ich jede Nacht mit Thomas Glavinic ins Bett gegangen. Soll mir keiner vorhalten, dass ich nicht treu bin. Wenn ich mal einen Roman aufgerissen habe, dann bleib ich dabei, selbstlos dem Autor gegenüber, bis zur letzten Seite. Auch wenn ich mich dabei verzehre und jede Nacht bei der Lektüre einschlafe. Nicht aus Langeweile, sondern weil mich der rücksichtslose Autor nicht los lässt, bevor mir die Augen vor Erschöpfung zufallen. Das Licht mach ich aus, wenn ich das erste mal zum Pinkeln aufstehe.

 

Glavinic Th und Hu 400

 

Der Ich-Erzähler säuft, kokst und fickt sich durch den Roman. Er lebt in Wien und bereist die Welt von Berlin über Carlisle bis Punta Arenas (die südlichste Stadt der Welt) und findet nicht zuletzt auf der Insel Krk eine Art Zuhause. Ich musste nicht erst auf wikipedia nachschlagen um zu kapieren, dass der ich-Erzähler starke autobiografische Züge hat. Schon auf Seite 6 stellt sich die Frage: wie lange hält er das durch?

 

S. 14 f: „Ich lege mich zu ihr. Sie bläst mir einen. Ohne entscheidenden Durchbruch. Irgendwie schaffen wir es dann doch. Während ich in einem etwas verkrampften Rhythmus in sie hineinstoße, schwitze ich, ich schwitze Schnaps und Koks. Es ist nicht das erste Mal, dass ich mich beim Sex frage, wieso um alles in der Welt ich gerade Sex habe.“

 

S. 121: „In den vergangenen sieben Tagen habe ich nach meiner Zählung mit vier oder fünf Frauen geschlafen, was ungefähr fünfzehn Gramm Koks und vier Cialis bedeutet. Wer diese Frauen waren, weiß ich nicht genau, jedenfalls weiß ich es nicht bei allen.“

 

S. 638: „Ich habe keine Ahnung, was für Leute ich vor mir habe. Das passiert mir selten. Wenn ich etwas kann, dann ist es Menschen lesen, das konnte ich schon mit fünf. Solche wie die hier sind nie zuvor auf meinem Radar aufgetaucht. Cynthia greift mir in die Hose. Da drin spielt sich nicht viel ab. Überhaupt bin ich mittlerweile mehr an dem Regal interessiert, in dem der Rest des Crystal liegt, als an einem Dreier mit dem undurchsichtigen Gangbangpärchen. Doch sie ist hartnäckig. Sie nimmt meinen Schwanz in den Mund und saugt, als wollte sie ihn als Ganzes verschlucken.“

 

Die Frage, wie groß das Ego eines Autors ist, der 748 Roman-Seiten lang ich, ich, ich, ich, ich, …. ich, mir, mich … ich... wiederholt, wird auf den ersten Seiten überlagert von dem voyeuristischen Bedürfnis, dem Autor beim … Nein!. Die tragische Figur des verkoksten ich-Erzählers beim Sex interessiert mich nicht die Bohne! Was mich interessiert ist der Exhibitionismus des Autors, der freiwillig seine Hirnwindungen frei legt, Blatt für Blatt hauchdünn aufschneidet und jedem x-beliebigen Leser auf dem Silbertablett serviert. Ich weiß nicht, wer der größere Freak ist: der Autor, der sich exhibitioniert, oder der Voyeur, der Blatt für Blatt dieser Extrawurst verschlingt.

 

Spätestens ab Seite 82 findet sich der Leser aber in einer anderen Welt und in einer anderen Zeit: der ich-Erzähler als 13-jähriger Schüler in der Weststeiermark:

 

S. 82: „Zum Frühstück schneide ich mir ein Stück Milchbrot ab und pule die Rosinen heraus.“

 

Dass der ich-Erzähler als 13-jähriger massenweise Milchbrot verschlingen muss, wo es zu der Zeit in der Weststeiermark mit Sicherheit nur Striezel gegeben hat, und dann auch noch die Rosinen „heraus pult“, wo jeder normale Steirer, der „Dörrobst generell nicht ausstehen kann“, die Rosinen rauskletzelt, ist eine Anbiederung an den deutschen Geschmack, die der Roman nicht nötig gehabt hätte.

 

Damit quittiere ich meine Dienste bei der Sprachpolizei. Denn so abstoßend der exzessiv koksende ich-Erzähler mit 40+ ist, so liebenswürdig ist sein 13-jähriges Alter-Ego Mitte im Jahr 1985. Dieser 13-jährige braucht keinen Polizisten, der ihn zurecht weist. Der hat genug Grips um sich zu artikulieren, genug Mut um seine Grenzen auszuloten und genug Gespür, um seine Umwelt und Mitmenschen richtig einzuschätzen.

 

Sowohl das alte Ego als auch das junge Ego erzählt in der Gegenwart. Der ich-Erzähler ist damit allgegenwärtig. Ein Attribut, das üblicher Weise dem lieben Gott zugeschrieben wird. Oder einem Genie. Und so könnte man die beiden Erzählstränge deuten: hier der ausgepowerte, zur Selbstzerstörung neigende Erfolgsschriftsteller, der die Banalität des Alltags durch Übersteigerung (Koks) und Verdichtung (das Schreiben) zu bewältigen sucht, da die Entdeckung des Schachspiels, in dem sich das verborgene junge Genie entfalten kann, das naturgemäß in anderen Bereichen des (Schul)Alltags als Versager da steht, genauer gesagt: sich als Versager fühlt. Insbesondere beim Versuch, die Flamme seiner Tagträume, deren Name dezent nur mit „M.“ angedeutet wird, zu erobern.

 

M. wie Marie? Diese Frage drängt sich beim dritten Erzählstrang auf, der vorwiegend in Tokio spielt und aus einer Beobachter-Position sowie in der Vergangenheitsform erzählt wird. Der Exzentriker Jonas, der nach dem Tod seines Paten, der offenbar eine Art Mafiapate war, zu Vermögen gekommen ist, betritt die Roman-Bühne schon auf Seite 29. Mit einem Geschlechtsakt, naturgemäß.

 

„Im Morgenlicht, das schwach ins Zimmer fiel, sah er allmählich die Umrisse von Maries Rücken vor sich, der durch seine Stöße vor und zurück geworfen wurde. Der Anblick trieb ihn noch mehr an, bis er etwas hörte, das er, würden sie sich nicht so gut kennen, für Schmerzenslaute gehalten hätte. Kein Gefühl machte ihn leichter als jenes, das von ihrem krampfartigen Pulsieren beim Höhepunkt ausgelöst wurde.“

 

Wie der Roman aber zu seinem Titel kommt, das erklärt uns der ich-Erzähler an seinem 13. Geburtstag am Neujahrstag 1985 in der Weststeiermark.

 

S. 82 f: „Seit fünf Stunden bin ich dreizehn, und je früher ich aufwache, desto länger habe ich Geburtstag. Mein Geburtstag ist einer jener Tage, an denen ich mich freue, dass es mich gibt. Meine Geburt hätte mir allerdings den Gefallen tun können, sich einen Tag im Frühjahr auszusuchen und nicht den 1. Januar. Ganz egal, was einem die Erwachsenen sagen: Da bekommt man weniger Geschenke. Wegen Weihnachten so kurz davor. … Ich denke an die Schule. Jetzt schon, obwohl sie erst in einer Woche wieder losgeht. … Die schlechten Noten sind mir in Wahrheit egal, Fahrradunfall hatte ich noch keinen, Gespenster belagern mich, haben mir aber nicht nichts Böses zugefügt, und im Schach kann ich vermutlich alles erreichen, was ich will. Ich bin so. Überall sehe ich die Gefahr, nicht die Chance. Ich habe gelesen, das nennt man den Jonas-Komplex.“

 

In der großen Welt des Romans mit dem Titel „Der Jonas-Komplex“ lässt sich der exzentrisch-asketische Abenteurer und Weltbürger Jonas von seinem Anwalt regelmäßig betäuben, damit er sich irgendwo auf dieser Welt ganz allein zurechtfinden muss. Sein letztes Abenteuer besteht aber darin, es gemeinsam mit Marie zu bewältigen: der Fußmarsch zum Südpol. Die gemeinsame Reise führt von Tokio über Santiago de Chile und Punta Arenas in die Antarktis. Dass der ich-Erzähler zu einer Lesereise nach Südamerika eingeladen wird und diese Reise für einen Abstecher nach Punta Arenas nutzt, löst beim Leser die Suggestivfrage aus, ob sich diese beiden unabhängigen Erzählstränge am Ende kreuzen werden, ob M. und Marie identisch sind, ob der ich-Erzähler seine Jugendflamme M. wieder trifft. Doch diese Frage bleibt am Ende offen.

 

S. 748: „Das finde ich irgendwie gut.“

 

Mehr als das. Ich finde das grandios! Thomas Glavinic balanciert immer an der Grenze zwischen Kolportage und Literatur, ohne ein einziges Mal in das Fettnäpfchen der Kolportage zu treten. Genau dafür liebe ich ihn! Übrigens feiert Thomas heute, am 1. April, seinen 47. Geburtstag. Happy Birthday, ich-Erzähler, auch wenn du uns mit dem 1. Januar ganz schön zum Narren gehalten hast!

 

Thomas Glavinic

Der Jonas-Komplex, 2016

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