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Die Kritik an den vorhandenen Moralen richtet sich vor allem gegen ihren statischen Charakter. Wenn nämlich eine Moral nur mehr damit befaßt ist, ihre einmal statuierten Werte zu befestigen, den status quo zu konservieren, so verliert sie irgendwann die Fähigkeit, neue Probleme neu zu bewerten. Aber wer setzt neue Werte? Und wonach richten sich neue Werte? Diese Fragen induzieren eine nicht zu unterschätzende Gefahr: die Willkür. Dieser Gefahr unterliegt aber nicht nur die kreative Moral, sondern auch jede (wohl- )situierte Moral. Der Unterschied liegt bloß darin, daß es in bezug auf letztere nicht mehr möglich ist, einen Urheber zu rekonstruieren, womit die Frage "wer hat die alten Werte gesetzt?" zurückgewiesen wird durch die Berufung auf die Tradition. (Das ist auch im Christentum der Fall. Jesus wird dort zwar als Urheber der christlichen Moral verehrt, aber wer seine Forderungen unkonventionell realisieren will, und damit die Tradition in Frage stellt, wird auch heute noch vor die Inquisition - man nennt sie heute Kongregation für Glaubensfragen - zitiert.) Die Willkür ist also eine Gefahr, die sich nicht erst beim kreativen Umgang mit Werten einstellt. Nicht die gegebenen Werte können daher Absolutheit beanspruchen, sondern ihre Vermittlung muß absolut, nämlich absolut transparent sein, wenn sich die Vermittlung von Werten nicht selbst zur Propaganda abwerten will.

 

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Wie könnte, am Beispiel des MoE, eine kreative Moral aussehen? „Moral war für ihn weder Botmäßigkeit, noch Gedankenweisheit, sondern das undenliche Ganze der Möglichkeiten zu leben. Er glaubte an eine Steigerungsfahigkeit der Moral, an Stufen ihres Erlebnisses, und nicht etwa nur, wie das üblich ist, an Stufen ihrer Erkenntnis, als ob sie etwas fertiges wäre, wofür der Mensch bloß nicht rein genug sei. Er glaubte an Moral, ohne einer bestimmten Moral zu glauben. Gewöhnlich versteht man unter ihr eine Art von Polizeiforderungen, durch die das Leben in Ordnung gehalten wird; und weil das Leben nicht einmal ihnen gehorcht, gewinnen sie den Anschein, nicht ganz erfüllbar, und auf diese dürftige Weise also auch den, ein Ideal zu sein. Aber man darf die Moral nicht auf diese Stufe bringen. Moral ist Phantasie. Das war es, was er Agathe sehen lassen wollte. Und das zweite war: Phantasie ist nicht Willkür.“ (MoE 1028)

Moral ist Phantasie. Diese prägnannte "Formel" könnte man als Quintessenz von Musils moralphilosophischen Überlegungen bezeichnen. Die Abgrenzung der Phantasie von Willkür wurde schon kurz gestreift. Die Abgrenzung der Moral von "Botmäßigkeit und Gedankenweisheit", d.h. die Unterscheidung von Moral und Ethik, wurde einleitend vorausgesetzt. Der Wirklichkeit der Moral, "durch die das Leben in Ordnung gehalten" werden soll, muß hier noch die ganze Möglichkeit einer kreativen Moral gegenübergestellt werden.

Moral ist das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben, kurz: Moral ist eine Lebensform. Einerseits gibt es die Möglichkeit, das Leben zu nehmen wie es auf einen zukommt, anderseits gibt es die Möglichkeit, sich sein Leben selbst zu wählen, sein Leben zu gestalten. In dem Fall steht man aber immer wieder vor der Wahl, sich zu entscheiden; und diese Entscheidungen können nie pauschal getroffen, sondern müssen immer wieder neu gefunden werden. Das ist sowohl ein bewußter, als auch ein kreativer Prozeß. Die erste Möglichkeit fmdet sich in den meisten Fällen der Wirklichkeit, und tritt entweder als Protektionismus oder als Fatalismus zutage. Für die zweite Möglichkeit bleibt daher entsprechend wenig Platz in der Wirklichkeit. Aber wer sich die volle Möglichkeit bewahren, und das heißt letztlich: wer das Ganze seiner Möglichkeiten auch realisieren will, der muß sich auf diese Lebensform einlassen. (Dazwischen gibt es natürlich alle möglichen Variationen.)

Moral ist steigerungsfähig. Angenommen A sagt zu B: "das war gut, aber es hätte noch besser sein können". Hat A ihn damit motiviert, sich zu steigern? A könnte B damit auch völlig destruiert haben, d.h. das Urteil von A ist so allgemein, daß es jede mögliche Wirkung haben karm. Angenommen B hat ein wichtiges Ziel nicht erreicht und ist nun total resigniert. Was sollte ihm A dann raten? A könnte ihm dann biblische Weisheiten zitieren (du sollst keine Ressentiments hegen), oder modeme Erfolgsrezepte anbieten (die Kraft des positiven Denkens bringt Erfolg), oder ihn mit bewährten Sprichworten ermuntern (Kopf hoch, und es wir schon wieder werden). Wenn A sich dieser vorgefertigten Phrasen bedient, so kann er damit Unmut, bestenfalls resignierte Zustimmung bei B hervorrufen. A könnt aber auch neue Ratschläge kreieren, oder die Situation von B ironisieren, um so das Spezifische seiner Lage neu zu beleuchten. (Und eine Situation ironisieren heißt nicht, sich über eine Person lustig zu machen.)

Auf den engen Zusammenhang von Moral und Gefühl wurde schon hingewiesen, aber was sind Stufen ihres Erlebnisses? Angenommen A hat Hemmungen, etwas für ihn Wichtiges anzufangen. Was sollte ihm B dann raten? Wieder stehen von ehrwürdigen Vorschriften bis zu gängigen Sprüchen eine große Anzahl fertiger Phrasen zur Verfügung. B könnte aber auch sagen: "Aller Anfang ist ein Ende." Daß aller Anfang schwer ist, spürt A ohnehin schon, daß aller Anfang aber einem ungewünschten Zustand ein Ende bereitet, könnte in A ein neues Gefühl wecken, das die ursprüngliche Hemmung aufhebt. Wäre A mit einer solchen Antwort geholfen?

Moral ist Phantasie. Diese "Formel" so zu interpretieren, daß Ethik und Ästhetik bei Musil eins seien, scheint mir mißverständlich. Diese Interpretation impliziert nämlich, daß Musil eine Lehre im Sinne hätte, in der er die beiden Disziplinen Ethik und Ästhetik synthetisieren wolle. Dann würde sich Musils Anliegen von dem anderer Moralisten nur durch den Maßstab unterscheiden. An die postulierte Einheit von Wahrem, Schönem und Gutem etwa wären dann nicht nur ethische, sondern auch ästhetische und epistemologische Maßstäbe anzulegen. Es geht Musil aber nicht um eine neue Morallehre mit modifIzierten Maßstäben, sondern um die Moral an und für sich. Das heißt (in Fortsetzung der Hegelschen Diktion): der MoE postuliert eine Dialektik der moralischen Entwicklung und rekonstruiert verschiedene Gestaltungen der Moral. Das heißt (in Musils Diktion): der MoE kreiert Moral, indem er nicht im status quo stecken bleibt, sondern die "Steigerungsfähigkeit der Moral" postuliert. Moral ist Phantasie heißt nicht: Ethik ist Ästhetik, sondern: Moral schafft Utopien mithilfe des Möglichkeitssinnes. Am Beispiel von Nächstenliebe und Selbstliebe könnte man diese "Formel" präzisieren.

Ulrich fordert Agathe auf: „Denk nicht, wer gut sei, müsse unter anderem auch mit der Selbstliebe im Lot sein, und das heißt dann gewöhnlich bloß maßvoll; sondern sage, wer die rechte Selbstliebe habe, sei gut! [ ... ] Denn nicht wer gegen andere gut ist, gilt da als gut; sondern wer gut an sich selbst, ist es notwendig auch gegen andere. Das ist also eine schöpferische Art Selbstliebe ohne Schwäche und Unmännlichkeit, eine kriegerische Übereinstimmung von Glück und Tugend, eine Tugend im stolzen Sinn!“ (MoE 1352)

Ob der Mensch an sich gut ist oder nicht, darüber streiten sich die Philosophen. Die Antwort wird meist daran bemessen, wie er sich gegenüber anderen verhält, und Selbstliebe wird dabei meist als Selbstgefälligkeit oder Egoismus bewertet. Tatsächlich äußert sich Selbstliebe oft als Egoismus, aber sie kann auch etwas grundsätzlich anderes sein: eine schöpferische Tätigkeit. Der besondere Stellenwert dieser moralischen Forderung wird schon an dem für Musil seltenen Pathos deutlich, mit dem er sie anpreist. Diese kreative Selbstliebe ist nämlich die Bedingung jeder moralischen Lebensform. Wer nämlich mit seinem Möglichkeitssinn an der Beschränktheit der Wirklichkeit nicht scheitern will, der braucht nicht nur immer neue Ideen und immer neues Selbstbewußtsein, der braucht zunächst einmal die Fähigkeit zur Selbstrekreation.

Moral als Phantasie wird aber nicht nur pathetisch gepriesen, sondern (selbstverständlich!) auch ironisiert: „Von den Eingebungen der ungewöhnlichen Menschen bis zum völkerverbindenden Kitsch bildet das, was Ulrich die moralische Phantasie nannte, oder einfacher das Gefühl, eine einzige, jahrhundertealte Gärung ohne Ausgärung.“ (MoE 1037)

Moralische Phantasie wird also keineswegs hochstilisiert zum Endpunkt einer moralischen Entwicklungslinie, sondern kann sich wiederum in ganz gegensätzlichen Formen realisieren (denke z.B. an Nobelpreisträger auf der einen Seite und Oscarpreisträger auf der anderen Seite). Moral als Phantasie ist Metapher für eine dialektische Einheit von Bewußtsein und Gefühl, von Ratioidem und Nichtratioidem. Moral als Phantasie ist der Versuch, "das unendliche Ganze der Möglichkeiten zu leben". In diesem Sinne stellt sich die Frage: wie möglich ist die Möglichkeit?

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