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Berlin – 15. November 2014 - Einen Tag nach den 25-Jahr-Feiern zum Mauerfall referiert Nicolaus Heinen im Haus der Bundespressekonferenz, Berlin, über seine Vorstellungen, wie man den Stillstand in Europa überwinden könne. Dabei tritt der 1980 geborene Volkswirt wie ein Musterschüler der SED auf, der seinen Zuhörern eloquent erklärt, dass man die DDR reformieren könne. Und er liefert auch gleich die Rezepte mit, wie.

Die SED von heute ist die Deutsche Bank (DeB). Als Analyst für europäische Wirtschaftspolitik ist Heinen im wirklichen Leben Musterschüler der DeB. Die Frage, die sich vor der Lektüre dieses Buches stellt, lautet daher: Wie tief kann seine Analyse gehen? Geht Heinen – wie alle Kollegen seiner Zunft – davon aus, dass einzelne Banken Probleme haben, oder ahnt er bereits, dass die Banken das Problem sind?

In den ersten beiden Kapiteln seines Buches „Mut und Wille. Wie wir Europas Blockade lösen“ analysiert Heinen den Status quo und wie es dazu kam. Die Gegenspieler, so kristallisiert sich schnell heraus, heißen Markt und Politik, wobei nicht schwer zu erraten ist, wessen Advokat Heinen ist. So bemerkt er in Bezug auf die Euro-Krisenländer, „dass größere Teile des Wachstums über private und öffentliche Schulden finanziert wurden und daher von vornherein nicht nachhaltig waren.“ (S. 24).

Frage 1: Welche Länder haben seit Ende des 2. Weltkriegs größere Teile des Wachstums nicht mit Schulden finanziert?

Frage 2: Wer ist der Profiteur dieser Schuldenpolitik?

Ein interessantes Detail, das ich bislang nicht kannte, erörtert Heinen: US-Hypothekenkredite sind regressfrei, das bedeutet, „dass Schuldner nur mit jenen Vermögenswerten haften, die der Hypothek zu Grunde liegen, nicht jedoch mit ihrem weiteren Vermögen.“ (S. 25) Den Verlust ihres Hauses können US-Hauseigentümer demnach leichter verschmerzen als EU-Häuslbauer, denen die Bank nach Verkauf des Hauses zu miserablen Konditionen nicht den Kredit streicht, sondern auch noch die Unterhosen auszieht, wenn immer noch ein Schuldenberg aber sonst nichts mehr da ist.

Die Ursachen des US-Finanz-Crashes 2007 zeichnet Heinen plausibel nach: Zuerst die lockere Kreditvergabe zur Stärkung der My-Home-Is-My-Castle-Mentalität. „Bald schlug die Stunde der Unternehmensberater und Bilanzexperten. Immer mehr Finanzinstitute lagerten ihre Forderungen aus...Dann schlug die Stunde der Finanzingenieure“ mit der Verbriefung von Krediten. „Ratingagenturen … spielten dieses Spiel gerne mit“. Dies blieb auch den europäischen Banken nicht verborgen, und „so verstärkten weitere Mittelzuflüsse von außen das Schneeballsystem zusätzlich“. (S. 26ff)

2009 ging es dann erst richtig los in Europa, wobei Heinen das erste Hilfspaket für Griechenland als „Sündenfall, der in den Folgejahren weitere Begehrlichkeiten wecken sollte“ bezeichnet. Konkret: „Die Finanzhilfen für Griechenland konnten die Kapitalmärkte nicht beruhigen – im Gegenteil: Sie nahmen das Hilfspaket für Griechenland nicht als Rettungsanker wahr. Vielmehr sahen sie darin ein explizites Eingeständnis der Euroländer, dass die Zahlungsfähigkeit weiterer europäischer Staaten auf dem Spiel steht. Und so zweifelten sie binnen weniger Tage auch die Zahlungsfähigkeit anderer Staaten an.“ (S. 35)

Frage 3: Ist die Politik überhaupt dazu da, die Finanzmärkte zu beruhigen?

Frage 4: Welches System diktiert der Politik, die Finanzmärkte zu beruhigen?

Zypern charakterisiert Heinen als „Schwarzgeldhafen Europas“ sieht jedoch in der „Enteignung zyprischer Sparer“, die unmittelbare Folge, „dass die Kapitalflucht aus den anderen Ländern der Eurozone anzog und Sparer auch dort Geld von ihren Konten abhoben.“ (S. 45) Der Volkswirt gebraucht gerne Formulierungen, die beweisen, dass er viel gelesen hat, aber selten eigene Urteile fällt. Sonst hätte ihm auffallen müssen, dass „der zyprische Sparer“ vorwiegend aus russischen Steuerflüchtlingen besteht. Heinen lässt auch unerwähnt, dass die Rettungsangebote, die Russland (selbstverständlich im Eigeninteresse) vorgeschlagen hat, aufgrund des Drucks der EU abgewiesen wurden.

Frage 5: Wer hatte Interesse daran, dass das Geld „zyprischer Sparer“ in der EU bleibt und nicht von Russland gerettet (und damit nach Russland abgezogen) wird?

 

EINSCHUB: Die Frankenkredite, die hunderttausenden ungarischen Häuslbauern von europäischen Banken aufgeschwatzt wurden, und deren dirigistische Konvertierung durch die ungarische Regierung unterhalb des sogenannten Marktwertes (d.h. exakt: unterhalb des vom Markt hochgetriebenen Preises), lässt Heinen außen vor. Wohl deshalb, weil er als Advokat des Marktes zur Kenntnis nehmen muss, dass dies seit Ausbruch der Finanzkrise der einzige Fall ist, in dem eine Regierung im Interesse ihres Volkes und nicht im Interesse des Finanzmarktes eine klare Entscheidung getroffen hat und damit auch Erfolg hatte!

 

Heinen über den Rettungsschirm: „Hoffnungen, dass der Eurorettungsschirm die Märkte beruhigen würde, erwiesen sich als trügerisch. Investoren rechneten nämlich genau nach … Dabei kamen sie stets zu dem Ergebnis, dass die Mittel des Schirms nicht ausreichen würden. Folglich wurde das Geschäftsmodell des Eurorettungsschirms mehrfach verändert.“ (S. 38f)

Frage 6: Gibt es eine Verfassung, die „die Märkte“ legitimiert, Regierungen vor sich her zu treiben?

Frage 7: Auf welcher Rechtsgrundlage agieren Regierungen, die ihre Politik nur noch an den Kalkülen (anders gesagt: an den infamen Spekulationen) der Finanzwirtschaft ausrichten?

 

Hier kommt Sir Karl Popper ins Spiel, vielmehr eine acht-seitige Hommage des Handelsblattes (Ausgabe 7./8./9. 11.2014) an den Wiener Philosophen und Verfechter einer offenen, freien Gesellschaft, der vor zwanzig Jahren verstorben ist. Jens Münchrath schreibt einleitend: „Ob IS-Terror oder die Konfrontation mit Russland, ob Euro-Krise oder die Ratlosigkeit der Notenbanken – die Welt, wie wir sie kennen, ist aus den Fugen.“ In dieser plakativen Form kann die Diagnose des Handelsblatt-Redakteurs wohl auch Heinen unterschreiben. Münchrath geht aber einen Schritt weiter: „Die einst so gepriesene Marktwirtschaft hat einen schweren Stand. Die seit mehr als sieben Jahren schwelende Finanzkrise hat den Glauben an die Effizienz und das Vertrauen, Märkte tendierten stets zum Gleichgewicht, erschüttert. Selbst Männer des Geldes wie Warren Buffet oder George Soros konstatieren eine Systemkrise“ (S. 54) Eine harte Diagnose, die aber umgehend abgeschwächt wird.

Im gleichen Abschnitt, der ausgerechnet unter der Headline „Mehr Markt“ steht, macht Münchrath den „Prophet der Freiheit“ (S. 50) auch noch zum Schutzheiligen des Marktes. Popper könne „mit seinen Lehren zu einer Rehabilitierung der Marktwirtschaft beitragen. Als großer Anhänger des Individualismus will er die Macht des Staates begrenzen.“ (S. 54) Es wäre müßig, hier das Zitat, mit dem Popper als „Schutzheiliger“ des Marktes angerufen wird, zu relativieren oder mit einer mehrseitigen Popper-Exegese dem Handelsblatt-Redakteur Interpretationsfehler nachzuweisen.

Der Schwachpunkt von Münchraths Argumentation liegt im grundlegenden Bereich, nämlich in der antiquierten Konstruktion des Konfliktes Privat gegen Staat, Marktwirtschaft gegen Planwirtschaft, Kapitalismus gegen Kommunismus, Ost gegen West. Trotz dieser reduktionistischen Betrachtungsweise vermittelt das Handelsblatt Popper für Manager über acht Seiten weitgehend authentisch, aber in der Ost-West-Thematik passiert Münchrath eine echte Entgleisung:

„Die großen Krisen dieses Jahres – der Konflikt mit Russland und der Krieg gegen den Islamischen Staat, beides erklärte Feinde der offenen Gesellschaft – könnten einen Beitrag dazu leisten, dass der Westen sich wieder bewusst wird, was ihn zusammenhält: Freiheit und Demokratie.“ (S. 53) IS und Russland in einem Atemzug zu nennen ist offenbar möglich in einem Land, in dem Putin mit Hitler verglichen wird (Siehe „Die Welt“ vom 1.4.2014). Wobei der saloppe Vergleich von Finanzminister Wolfgang Schäuble „dem Westen“ das emotionale Unterfutter liefert, um den Kampfgeist für „Freiheit und Demokratie“ zu stärken.

Hier kommt George Soros ins Spiel. Als Gast des „Handelsblatt Deutschland Dinner“ outet sich der Multimilliardär und „Philanthrop“, wie ihn das Handelsblatt mehrfach nennt: „Ich habe mich immer an Karl Popper orientiert, der mein Mentor war.“ (S. 12) Im Gegensatz zu Heinen, der im unverbindlichen Volkswirtschaftsdeutsch über „die Politik“, „das Finanzsystem“, „das Schuldendrama“, „unsere Gesellschaft“ usw. spricht, nennt Soros die Dinge beim Namen: „Europa muss aufwachen: Es gibt jetzt eine Alternative zur Europäischen Union. Einen anderen Weg, einen Staat zu führen. Und das ist der Weg der Gewalt.“ Frage des Redakteurs: Sie reden über...? Soros: „Russland. Putins Russland. Das ist die Alternative. Russland kommt mit seinem Kurs auch deshalb durch, weil die EU so schwach ist und versagt.“ (S. 13)

Da ist es also wieder, was uns gefehlt hat seit dem Fall der Mauer: das Feindbild! China, die letzte kommunistische Weltmacht, hat mit einem Staatskapitalismus sui generis derart starke Abhängigkeiten geschaffen, dass es als Feindbild nicht in Frage kommt. Da ist die Abhängigkeit vom russischen Erdgas, zumal es nur Europa betrifft, für „den Westen“ sicher verschmerzbar.

Frage 8: Wie ist es möglich, dass die USA als höchst verschuldeter Staat dieser Welt von S&P aktuell (Stand 10. Oktober 2014) ein Rating AA+ erhält, während Russland mit minimalen Staatsschulden bei der gleichen US-Ratingagentur mit BBB- abschneidet? (Quelle: tagesschau.de)

Frage 9: Wie ist es möglich, dass in Amerika wieder lustig Kreditblasen aufgebaut werden, während in Europa mit Verweis auf Basel III die meisten innovativen Projekte mangels Finanzierung im Keim erstickt werden?

Es liegt wohl an der Gnade von „Philanthropen“ aus der Liga Soros, dessen Foundation aus Russland raus geschmissen wurde, dass dieses Finanzsystem noch funktioniert. Im Interview mit dem Handelsblatt gibt er ganz beiläufig zu Protokoll: „Ich denke, ich werde die Märkte nicht beeinflussen, wenn ich sage: Der Dollar ist ganz offensichtlich die stärkste Währung der Welt.“ (S. 14) Ganz nebenbei wird auch enthüllt, warum ein Thomas Piketty aus dem Nichts auftaucht und mit der "sensationellen" Erkenntnis, die Einkommensschere gehe weiter auseinander, weltberühmt wurde: die Zahlen dafür hat ein Thinktank von Soros geliefert!

Ich bezweifle, dass Popper dieses System und das, was von den westlichen Demokratien übrig geblieben ist, als Vorbild geschweige denn Vollendung einer offenen Gesellschaft betrachten würde – trotz der von ihm empfohlenen Politik der kleinen Schritte, die das Handelsblatt offenbar in der Politik von Angela Merkel verwirklicht sieht. Ich bezweifle, dass Popper als Verteidiger eines "freien Marktes" auftreten würde, der ohne politisch institutionalisiertes Korrektiv die Konstruktion von Schneeballsystemen erlaubt. Sogar Heinen nennt diese Konstruktion beim Namen, freilich nur aus seiner volkswirtschaftlichen Vogelperspektive und ohne die notwendige Konsequenz, darauf hinzuweisen, dass Schneeballsysteme kriminelle Konstruktionen sind, und jenen, die diese (immer noch) konstruieren, das Handwerk zu legen ist.

Hier nochmals ein Vergleich mit den "besten Zeiten" der SED. Wenn Mitglieder der SED in Bezug auf das eigene System über eine Krise sprachen, so meinten sie etwas grundlegend anderes als wenn westliche Kritiker des Kommunismus diesem eine Krise attestierten. Anders gesagt: Die Denkungsweisen eines Systemträgers und eines Systemkritikers sind grundlegend unterschiedlich, ein Begriff wie „Krise“ bedeutet demnach in beiden Welten, aus unterschiedlichen Perspektiven, etwas völlig anderes. Meines Erachtens manifestiert sich das herrschende System von heute in der DeB, wobei DeB natürlich nur pars pro toto für das System der real existierenden Finanzmarktwirtschaft steht. Diese Irrealwirtschaft hat mit der Realwirtschaft im Grunde nichts mehr zu tun. Man könnte dieses System durchaus auch als System Soros bezeichnen. Im Übrigen bin ich der Meinung, dass George Soros ein Philanthrop ist, ebenso wie Erich Honecker ein Philanthrop war.

An der Stelle möchte ich an einen offenbar in Vergessenheit geratenen Schüler von Karl Popper erinnern, der wie sein Lehrer 1994 verstorben ist: Paul Feyerabend. Sein Schlüsselbegriff war der Paradigmenwechsel. Haben Heinen und die Apologeten des Marktes den Mut, sich angesichts der Entgleisungen der Finanzmärkte, die nichts mehr mit Freiheit, sondern nur noch mit politisch geduldeter Willkür zu tun haben, die Frage zu stellen, was nach dem Finanzkapitalismus kommt?

 

Heinen abschließend: „Wann fangen wir an?“

 

Quellen:

Nicolaus Heinen

Mut und Wille. Wie wir Europas Blockade lösen

ISBN: 978-3-95462-314-3

 

Handelsblatt

Ausgabe 7./8./9. 11. 2014

George Soros Deutschland Dinner. „Freiheit ist nicht selbstverständlich“, S. 12-15

Der Prophet der Freiheit, S. 50-57

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